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Kunstwart und Kulturwart — 37,1.1923-1924

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Heft 6 (Märzheft 1924)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.14439#0221

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verantwortlich redet und zu dessen allein bedeutungvoller Ausprägung, zu
dem Radau-, Pogrom- und Mord-Antisemitismus nicht entschteden Stel-
lung nimmt, der versündigt sich — am deutschen Volkstum! Denn dem
tut nichts dringender not als die Entgiftung — die Rechtsertigung von
Privatslimmungen und die Behandlung von „Takt"-Fragen (als welche
St. die Iudenfrage hinstellt) ist daneben herzlich unwichtig und kann nur den
Bliü gründlich trüben, wenn sie unter dem Titel „Antisemitismus" erfolgt.

Drei Lrscheinungen hebt er willkürlich aus der Fülle heraus und setzt
sie in einr willkürliche Beziehung in der „Stufenfolge": Mensch, Volk,
Menschheit. Willkürlich: weil es weit mehr gleichgeordnete Erschemungen
gibt. Willkürliche Beziehung: weil sich mit besserem Recht noch viele
„Stufenfolgen" aufsteilen lassen. Ein Beispiel: Familie, Gemeinde, Stamm,
Staat. Ich erkläre mich genauer. Der Mensch ist nach uralter Einsicht kein
einzeln lebendes Wesen, sondern ein vergemeinschaftetes. Zu den Gemein--
schaften, denen er eingewoben ist, gehört das Volk. Zu ihnen gehört auch
die Familie, die Sippe, die Gemeinde (Dorf, Stadt), der Stamm, der
Staat, das Volk, der Bund, der Verein, die Kirche, die Ehe, die Klasse,
der Stand, das Geschlecht; es gibt ihrer noch mehr. Stapel betont: das
Volk sei „ein Stück Wirklichkeit" . . Nun ja! gewiß! Alle Gemeinschaften
sind „Wirklichkeit". Es sragt sich, welche Konsequenzen das hat.

Das Problem der Gemeinschaft zerlegt sich, sachlich betrachtet, in drei
Hauptfragen: Welche Gemeinschaften gibt es? Wie stark binden sie uns
tatsächlich? Wie sshen sie in Wirklichkeit aus? Dazu kommt die anders-
gerichtete Frage: an welche davon soll ich mich binden, welche soll ich
pflegen, welche bevorzugen? Dies ist eine ethische Frage! nicht Beweis
und Tatsache entscheidet darüber, sondern Anlage und Weltanschauung,
unsre „letzte Einstellung".

Daß es mehr Gemeinschaften gibt als Stapel anführt, wurde gesagt.
Welche nun binden die heutigen Menschen am stärksten? Nach meiner Er°
fahrung: Klasse, Staat, Kirchs, Ehs, Bund in erster Linie und mit unver-
gleichlicher Kraft. Das Gefühl verpflichtender Zugehörigkeit ist gering gsgen-
über etwa der Familie, kaum wahrnehmbar gegenüber der „Sippe" (deren
Begriff sogar fast verschwunden ist), schwach gegenüber dem Stamm, mittel-
stark gegenüber dem Volk. Es gibt Ausnahmen: die Bayern fühlen sich
z. B. häufig dem Stamm tief und vorzugsweise verpflichtet; der Adel und
ein kleiner Teil des Bürgertums der Familie; einige durch dieses Merkmal
gekennzeichnete Kreise (Sskten) dem Volk. Das sind Ausnahmen.

Starkem, von Verpflichtunggefühl betontem Zugehörigkeitgefühl bin
ich begegnet gegenüber der Religiongemeinschaft: katholische Deutsche
kennen vielfach keine tiefere Verpflichtung als die, ihre Bekenntnisgemein-
schaft zu fördern. Dann gegenüber der Klasse: die Solidarität der Arbeiter-
schaft ist nicht selten todbereit, die der Arbeitgeber erzwingt häufig schwere
Opfer. Gegenüber der Ehe: ihre bindende Gewalt bedarf des Beispiels

gibt, sie aber im übrigen entschuldigt und als „bedentungslos" bezeichnet; er
düngt den ohnehin „geeigneten" Boden, denn jene zunächst nnr verhaltenen
Fremdheitstimmungsn, die er rechtfertigt, sind dieser „Boden". Und er fragt nicht
scharf genug, woher der geeignste Boden stammt. Würde er danach fragen^ so
würde er die Antwort finden: Zu YO von Hundert haben frühere Hetzen ihn
bereitet. Was übrig bleibt, die (0 Prozent nicht ins Volk hineingehetzte Inden-
gegnerschaft, die bliebe allerdings vielleicht „bedeutnngslos", wenn sie nicht
immer wieder durch „Hetze" anfgepeitscht würde.

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