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Kunstwart und Kulturwart — 37,1.1923-1924

DOI issue:
Heft 5 (Februarheft 1924)
DOI article:
Haës, K. W.: Primitive Kunst
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14439#0159

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keit der Imaginativen innerlich und äußerlich abtun und zu freierer Wirt--
schaft, bewegterem Leben gelangen. Dsr Pendel schwang zurück; auf dsr Spi--
rale war der große Sensorismus reifender Völker erreicht: Kretas, Mykenäs,
Benins, Mexikos, Perus, der Wandervölker der Völkerwanderung. Line
Kunst wird so einheitlicher Anschauung unterzogen, dis an der Schwelle der
geschichtlichen Zeit sich breitet an verschiedenen Stellen der Erde. Formen-
reich und vielgestaltig schon, kultiviert, raffiniert sogar, in einzelnen Werken
blendend schön, in anderen bohrend charakteristisch, unentrinnbar eindruckvoll.
^-icht genug kann sich Kühn tun in der Durchführung seiner Grund--
^^sätze: daß Kunst vom jeweiligen Wirtschaftzustand abhängig sei, und
daß die zwei Formen dsr parasitischen — Iäger- und Herren-- Handels-- —
und der symbiotischen Ackerbau-Wirtschaft die beiden Grundformen aller
primitiven Kunst, dis sensorische und die imaginative, bedingen. Ia,
alle Kunst der Erde will er dem Schema eingliedern und weist mit
starker Hand der griechischen Klassik, der Renaissance einerseits, der ägyp-
tischen, assyrischen, gotischen, byzantinischen Kunst da und dort ihren Platz
an. Das „ewigs Auf und Ab" erscheint ihm als das Gesetz, nach dem
Sensorismus und Imaginativismus einander ablösen. So weist der theore-
stische Teil des Buches, gewonnen aus eindringlicher Zergliederung der
Primitiven, über den Rahmsn hinaus in die Ästhetik und in die Prinzi-
pienwissenschaft der Kunstgeschichte. Wie alle scharfen Zweiteilungen und
Polaritätsetzungen, die sachlich erarbeitst sind, fesselt und fruchtet diese;
man überblickt lange zeitlichs Strecken und findet sich zurecht, das Vielerlei
gliedert sich sinnvoll. Wie alle reizt sis aber auch zu Widerspruch;
gewiß: Kühns Material erscheint überzeugend an- und eingeordnet —
aber wieviel blieb außerhalb seinsr Betrachtung? wievieles hätte sich am
Ende seinem Schema nicht gsfügt? Er selbst kennt Äbergangszeiten und
-sormen. Und ob nicht noch andere Tendenzen zuweilen wirksam werden
als die, welche er hervorhebt? — Wir stellen nur die Fragen; mit ihrer
Beantwortung, mit der Kritik Kühns wird sich die Wissenschaft zu be-
schäftigen haben, der er stärkere und umwLlzendere Impulse gibt als manche
Sucher, Dränger und Revolutionäre, dis heute mehr aus der Fülle des
Gemüts als aus sachlicher Betrachtung heraus die zweifellos notwendige
Amgestaltung der Kunstgeschichte und -wissenschaft verkünden oder fordern.

Der lebendige Gewinn, den Kühns prachtvolles Buch bedeutet, liegt in
anderer Richtung. Gleichviel, wie sie sachgerecht gruppiert werden möchte,
unserem Empfinden tst primitive Kunst bislang so restlos nahs nicht ge-
bracht worden. Das „Material" ist kaum im Geringsten neu; doch liegt
es nun zum ersten Male, im Lichte fruchtbarer Betrachtung, angehaucht
von absolut künstlerischer Empfindung, übersichtlich geordnet, vor uns, greif-
bar, schaubar, nacherlebbar. Die ausgszeichneten Abbildungen und die
klugen, mit besonnener Leidenschaft geschriebenen Abhandlungen erwei-
tern nicht unsers ethnologischen Kenntnisse, doch dehnen sie den Rahmen,
in dem wir das Bild echter, großer Kunst erblicken, um Iahrzehntausende
und um Erdteile. Lange hat die Forschung vorgearbeitet, nun tommt die Deu-
tung zu Wort, das Leben bsmächtigt sich des Errungenen: wir, die Nach-
kommen erobern das Erbs, um es als Zeugnis einhelliger Menschhsit und
ihres einhelligen, edelsten Schaffenstriebes froh zu besitzen.* K. W. Haes

* Die Bildbeilagen und -wiedergaben dieses Heftes entstammen Kühns beiden
obengenannten Werken. — Zwei weitere Werke über Primitive Kunst werden
nnter „Kunstbücher" besprochen.

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