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Kunstwart und Kulturwart — 37,1.1923-1924

DOI Heft:
Heft 5 (Februarheft 1924)
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Fischer, Eugen Kurt: Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: zu seinem 300. Geburtstag
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https://doi.org/10.11588/diglit.14439#0154

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»daß Unbeständigkeit allein beständig sey, sowohl in Freud als Leid",
zeitgemäß im Drange, das Leben einer ganzen, kampferschütterten Gegen-
wart in gedrängter Bilderfolge abzurollen, zeitgemäß in seinem Wechselspiel
von rastlosem Genuß- und Abenteurertrieb und Ruhebedürfnis, das den
Irrenden in die Waldeinsamkeit seiner Iugend zurückführt, zeitgemäß in
seinem Drang nach Erlösung. Doch wie bitter wenig „Erlösung" fand ert
Nach dem ganz offenbaren Abschluß hängte der Dichter seinem Werk noch
ein weiteres Buch an: neue Irrfahrten und neue „Isolierung" des Hel-
den sind dessen Thema: Defoes Robinson, eben erst erschienen, war das
Vorbild dazu. Diese weltliche Bibel des ersten nachlutherischen Iahr-
hunderts der „Glaubens"-Kämpfe, dieses „Simplizissimus"-Werk ist in
seinen stärksten Teilen nicht frei erfunden, nicht aus angelesenen tzistorien
und Anekdoten zusammengetragen oder zu satirischen Zwecken ausgedacht
wie seine spanischen Schelmenromanvorbilder, sondern es ist Schilderung
eigener Kriegserlebnisse und Seelenkämpfe des Dichters im Ichton und in
einer prachtvoll bildhaften Prosa, die ihre Vorläufer hat in den Lebens-
beschreibungen dsrer von Zimmern etwa oder des Götz von Berlichingen,
in den Reise-Denkwürdigkeiten Philipps von Hutten und mancher Anderer.
Grimmelshausen bereichert das Erbe Luthers mit einer Fülle wunderbarer
Einfälle, Zitate, Sprichwörter, Fabeln, mythologischer und gelshrter Ex°
kurse, scherzhafter Betrachtungen, leidenschaftlicher Ergüsse und verblüffen-
der Sachbeschreibungen, durch die er als Seelenverwandter des fast zwei
hundert Iahre später lebenden Iean Paul erscheint, wie denn Iean Pauls
dichterische Fülle, sein strotzender Beziehungsreichtum, sein virtuoses Spiel
mit rasch wechselnden Gegensätzen uns heute auch wieder gleich Grimmels-
hausen mehr entzückt als die letzten Geschlechter.

Der französische Roman von Gargantua und Pantagruel, der spanische
Don Quichote sind Grimmelshausens Werk ebenbürtig, sormal vielleicht
sogar überlegen, denn noch wirkt bei dem Deutschen jener Stoffhunger nach,
der den biederen Hans Sachs dazu trieb, was immer er an Historien und
Historie, an Stadtklatsch und Bierbankpolitik, an gelehrten Aussprüchen
und an Bolksweisheit auffangen konnte, in einigen tausend Werken „reimen-
weis" wiederzugeben. Was aber die Besonderheit des Deutschen ausmacht,
das ist die starke Betonung seiner Faustnatur, die ihn nie im Genuß ver-
harreu, nie aber auch in der Ruhe des Gemüts sich endgültig finden,läßt.
Solange die Abenteuer den tzelden der Dichtung beherrschen, sagt auch der
Dichter ja zu ihnen und täte ers nicht, so wären die Schilderungen viehischer
Soldateska, verderbter Söldnerführer und Edelinge nicht so prachtvoll ge-
lungen. Redensarten, die den Bildungsgrad, das Temperament und die
Gesinnung des Sprechenden anzeigen, Gebrauch verschiedener Mundarten
und gleichzeitige Schilderung verschiedener Typen machen die Geschehnisse
lebendig. Dazu kommt eine Gabe des Zusammensehens, wie wir sie nur noch
bei Shakespeare finden. Selbst in der reinen Reflexion, in des weltmüden
Simplizius Abschied von der Welt sind die Schilderungen menschlicher
Charaktere und Leidenschasten, Lebensalter und typischen Schicksale in knapp-
ster Darstellung noch so gehäuft, daß dem breit geschilderten kleinen Welt-
theater des simplizianischen Erdenwallens auf wenigen Seiten als Quint-
essenz seiner Erkenntnisse die Amrisse dss großen, allmenschlichen Welt-
theaters folgen. Kindische Dumpfheit, böse, wilde Welt, Alterseinsamkeit
oder auch: Torheit, Irrfahrt, Einkehr in Gott, das sind die drei Schicksals-
stufen, über die Simplizius wie sein Dichter schreitet, dem Parzifal ver-

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