Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]: Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes (15.1972)

Neuorientierung der altsprachlichen Didaktik?
Im Mittelpunkt unserer Didaktik, verstanden als Theorie des altsprachlichen Unter-
richts, stand noch vor kurzem fast ausschließlich das Streben nach wissenschaftlicher
Durchdringung der Texte und nach methodischer Verfeinerung des Unterrichts - beides
gleichsam hauseigene Interna. Erst seit etwa 1969 (von einzelnen Vorläufern abgesehen)
finden sich Ansätze, die zum Teil schon eingetretene Isolation zu durchbrechen und den
Anschluß an die Allgemeine Didaktik herzustellen. Im Bereich der Curriculumforschung
scheint dies zu .glücken (vor allem durch die auch außerhalb der Fachmauern beachtete
Arbeit des Didaktischen Ausschusses des DAV); weniger auf anderen Gebieten, die da-
her nachdrücklich der Bearbeitung empfohlen seien: die Adaption der Lernpsychologie,
die Praxis der Mediendidaktik, die Motivationstheorie, die Berücksichtigung der anthro-
pogenen und soziokulturellen Veraussetzungen, in die Schüler, Lehrer und Schule ver-
flochten sind, der Brückenschlag zur Linguistik und dergleichen mehr.
Das vorliegende Heft soll in seinem didaktischen Teil die notwendige Auseinander-
setzung mit den neuen Tendenzen widerspiegeln. Harald Patzer versucht in einem
aufsehenerregenden Aufsatz die Alten Sprachen ganz konsequent in die moderne Bil-
dungsidee einzuordnen. Dieter Gaul möchte das gespannte Verhältnis zwischen dem
Altsprachlichen Unterricht und der Gesamtschule abbauen. Rainer Nickel setzt sich aus
seiner Sicht sehr kritisch mit den Thesen Wilhelm Behrendts (Heft 3/1971) auseinander.
Weicht die didaktische Erstarrung des Altsprachlichen Unterrichts einer neuen Offen-
heit und Diskussion? Mit großer Hoffnung blicken wir auf die Ostertagung des DAV in
Kiel, für die dieses Heft einiges Diskussionsmaterial beisteuern möchte. Das Kieler Pro-
gramm ist vielversprechend; möge einst gesagt werden können, daß von Kiel aus die
didaktische Neuorientierung des Altsprachlichen Unterrichts wirksam geworden sei!
Klaus Westphalen

Aktuelle Bildungsziele und altsprachlicher Unterricht

Vortrag gehalten Reinhardswaldschule 4. 10. 71
Seit einigen Jahrzehnten ist unser Schulwesen, besonders sein gymnasialer
Bereich, Gegenstand einer ständig wachsenden öffentlichen Kritik. Man wirft
ihm vor, es sei rückständig und weltfremd geworden, weil es sich zu wenig den
Bildungsforderungen unseres sich so schnell verändernden Lebens geöffnet habe,
und da dieses sich immer beschleunigter zu verändern scheint, die Schule aber nur
sehr zögernd nachkomme, werde sie täglich rückständiger. Die Antwort auf
diese Kritik ist bisher kaum mehr gewesen als einige Verbesserungen der Unter-
richtsmethoden und der Organisation, die die Schultypen im Verhältnis zuein-
ander durchlässiger gemacht hat. Wir sind jetzt an dem Punkt angelangt, wo
sich die Meinung Bahn bricht, daß das nicht ausreicht, sondern daß die Lehr-
gehalte der höheren Schule auf die genannte Kritik hin zu überprüfen sind. Das
aber zwingt an deren Grundlagen anzusetzen, d. h. der diesen Lehrgehalten
zugrunde liegenden Bildungsidee.
Gegen die Fächer der Oberschule jeglichen Typs wird eingewandt, daß sie zu
sehr philologisch betont sind und daß sie, selbst in ihren naturwissenschaftlich aus-

DAV-Mitteilungsblatt 1972/1

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