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Deutscher Altphilologenverband [Editor]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 15.1972

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Nr. 4
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Weber, Franz Josef: Das Erbe der Antike: aus: Jahresbericht der Vereinigung ehemaliger Theodorianer 1971
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https://doi.org/10.11588/diglit.33065#0097

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Herodot sucht auch gar keine Entschuldigung für Homer; für ihn gilt schlicht und
einfach: was Homer über den troischen Krieg schreibt, ist, historisch gesehen, falsch.
Auch hier steht die Wahrheit höher als die traditionelle, als die anerkannte Autorität
Homer. Ähnliches könnte man für den Historiker Thukydides zeigen. Auch er pole-
misiert vielfach gegen Homer. Auch bei ihm sind Tradition, Brauch, Lebensstil, Ver-
fassung, alles geschichtlich Gewordene zweitrangig und nebensächlich, wenn es um eine
neue Wahrheit geht. Zusammenfassend darf man sagen: das Erkenntnisstreben macht
vor keiner Autorität oder Tradition halt und darf vor ihnen nicht haltmachen. Das
ist die wissenschaftliche Haltung, die uns von den Griechen überkommen ist. Diese
wissenschaftliche Haltung, die der Wahrheit dient, die einer neuen Erkenntnis den
Weg freimacht, die sich von überholten Autoritäten befreit, haben Männer wie Sokrates,
Platon, Aristoteles gelebt.
Sokrates sagt in der Apologie 29 D: „Ihr seid mir lieb und wert, athenische Mit-
bürger, aber ich werde dem Gott Apollon, der mir den Auftrag gab zu philosophieren,
mehr gehorchen als euch, und ich werde, solange ich lebe und dazu in der Lage bin,
nicht aufhören zu philosophieren.“ Dann stellt Sokrates seinen Richtern vor Augen,
daß die Wertordnung der Athener überholt sei, die Wertordnung, die in Vorstellungen
wie Geld, Macht, Einfluß, persönlichem Prestige, kulminiert (29 E). Diesen tradi-
tionellen Werten des 5. Jahrhunderts setzt Sokrates dann neue Werte gegenüber: Ein-
sicht in das, was gut und schlecht, richtig und falsch ist, Wahrheit und die sich ver-
antwortende sittliche Persönlichkeit. Sokrates sagt nicht, daß die „alten Werte“ von
nun ab etwas Schlechtes seien; er sagt aber sehr wohl, daß es höhere Werte gibt als
Geld, Macht, Reichtum und Prestige. Geld, Macht, Reichtum können nicht, wie wir
sagen, Primärwerte oder Höchstwerte sein. Für diese seine neue Einsicht war Sokrates
bereit, in den Tod zu gehen.
Platon, der Homer als Dichter schätzt, den persönliche Neigung und Liebe zu Homer
ziehen, ist, wie er im „Staat“ (Buch II und III) betont, sogar bereit, Homer aus dem
Gesamtbereich der Erziehung zu verbannen, eben weil er glaubt, in seiner Zeit könne
Homer nicht mehr helfen bei der Erkenntnis der Wahrheit.
Aristoteles kennt ebenfalls dieses Sich-Absetzen von seinen Vorgängern. Er setzt sich
ab von seinem Lehrer Platon, bei dem er 30 Jahre studiert hat und dessen erster Mit-
arbeiter er gewesen ist. Aber in der Sache trennt er sich von ihm, er ist begründet
anderer Meinung. Er kann ihm auch aus Freundschaft nicht in der Frage der Ideen-
lehre folgen. In der Nikomachischen Ethik (1096 a 16) hat er diesem Konflikt Aus-
druck verliehen: „Es handelt sich bei dieser Frage (der Behandlung der Ideenlehre)
um ein heikles Thema, weil es um meinen Lehrer Platon geht. Es scheint mir aber not-
wendig zu sein, der Wahrheit die Ehre zu geben. (Und dann der entscheidende Satz:)
Wenn beide uns lieb sind (beide = Platon und die Wahrheit), so ist es Pflicht, der
Wahrheit die größere Ehre zu geben.“ Das ist in der vornehmen Art des Aristoteles
formuliert; die Unnachgiebigkeit in der Sache ist unverkennbar, auch einer solchen
Autorität gegenüber, wie sie Platon für Aristoteles nun einmal darstellte.
Vielleicht darf ich jetzt allgemeiner sagen, indem ich zu dem Prinzip zurückkehre,
das all den behandelten Stellen zugrunde liegt: die Griechen sind offenbar geneigt,
alles ihnen Vorgegebene in Frage zu stellen. Unbestritten ist das Recht des einzelnen,
Neuerkanntes und Neuerlebtes auszusprechen. Der wissenschaftliche Geist zeigt sich
darin, daß das Gegebene, die Tradition ständig in Frage gestellt, geprüft und neu
durchdacht wird. So löst sich der einzelne oder die Gemeinschaft nötigenfalls von
Bindungen, starren Traditionen, überholten Meinungen. Um ein mögliches Mißver-
ständnis auszuschließen: es geht hier nicht um einen Widerspruch um jeden Preis, um
die moderne Haltung des Nonkonformismus (der Nonkonformismus als Haltung ist
eine Ideologie, eine Abart einer wirklich wissenschaftlichen Gesinnung. Man kann

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