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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 27.1984

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Nr. 2
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Bartels, Klaus: Über Griechisch und Latein
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https://doi.org/10.11588/diglit.33084#0038

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und die Theologie, die Mathematik und die Metaphysik, die Astronomie und die
Zoologie und alle die übrigen verstreuten Einzelwissenschaften noch einmal
unter dem weitgespannten Dach der alten 'philosophia’ zusammenfinden; es ist
ja sozusagen ihr Geburtshaus, in dem sie allesamt einmal aus der gleichen
philosophischen Unruhe, dem gleichen philosophischen Staunen hervor-
gegangen sind. Wenn nun der altsprachliche Unterricht neben der Dichtung, der
Geschichtsschreibung und der Rhetorik und neben der Philosophie heute zuneh-
mend auch die vermeintlich spröderen Stoffe der Mathematik und der Naturwis-
senschaften miteinbezieht, so kommt der Gewinn nicht allein dem Griechischen
oder dem Lateinischen selbst zugute. Gegenüber der oft und laut beklagten
Fächervielfalt unserer Stundentafeln, die den Schüleralltag mitunter zu einem
rasenden Fächerkarussell macht, und der nur schwer zu überwindenden Abgren-
zung der einzelnen Fächer voneinander, zumal der sprachlichen und der natur-
wissenschaftlichen, kann der altsprachliche Unterricht mit bestem historischem
Recht immer wieder in die Bereiche anderer Fächer ausgreifen und seine guten
Dienste zu einem lebendigen Dialog gerade auch zwischen den geistes- und den
naturwissenschaftlichen Fächern leisten.
Im Jahrhundert der Psychoanalyse wird der Gedanke wiederum einleuchten,
daß wir als Erben einer dermaßen traditionsbeladenen geistigen Kultur erst und
nur dann zu einem wirklichen Selbstverständnis und damit zu einer wirklichen
Gedankenfreiheit gelangen können, wenn wir uns von den 'dreitausend Jahren’
seit Homer, mit Goethes Spruch, 'Rechenschaft’ geben und uns unserer in Jahrhun-
derten und Jahrtausenden gewachsenen geistigen Bedingtheiten bewußt werden.
Die Auseinandersetzung mit der Antike ist für uns gerade darum so fruchtbar, als
sie uns ja nicht mit irgendeiner beliebigen fremden Kultur, sondern mit unserer
eigenen Ursprungs- und Jugendzeit konfrontiert. Die Fragen und Probleme, die
damals in der jungen griechischen Wissenschaft entdeckt wurden, sind vielfach bis
heute die gleichen geblieben; die Antworten und Systeme, die damals mit einer
unerhörten Kühnheit entworfen wurden, haben sich seither bald auf erstaunliche
Weise bestätigt, bald in ihr völliges Gegenteil verkehrt. Natürlich hatte die Antike
gerade so wie die Gegenwart ihre wenn nicht gänzlich unreflektierten, so doch
nicht ernsthaft diskutierten Grundüberzeugungen; doch das Interessante für uns
liegt darin, daß diese damals andere waren, als sie es heute sind. Da kann einem
auf einmal das Selbstverständliche als fragwürdig, das Fragwürdige als selbstver-
ständlich erscheinen. Wenn wir das Leben und Denken der Antike, wie es uns in
der griechischen und der römischen Literatur und auch in der Bildenden Kunst
gegenübertritt, heute nicht mehr so sehr wie vordem lediglich in seiner 'Größe’
bewundern und ganz gewiß nicht mehr als ein maßgebendes 'klassisches’ Vorbild
betrachten, sondern vielmehr aus der Perspektive der Gegenwart das Gleichartige
in aller Differenzierung zu vergleichen und das Ungleichartige in seiner Eigenart
zu verstehen suchen, so liegen der Reiz und der Wert einer solchen vergleichen-
den Betrachtung gerade in der eigentümlichen Verbindung des Vertrauten und
des Fremden. Die Antike ist uns geistig nahe genug, daß wir uns mit ihrem

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