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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 36.1993

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https://doi.org/10.11588/diglit.35882#0019

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War Horaz ein Phüotoge?
Die beiden Beiträge zum Horaz-Vers „Dulce et decorum est ..." im MDAV 4/92, S. 161-164,
veranlassen mich zu einer spontanen Stellungnahme, bei der ich bewußt darauf verzichte
(warum, wird bald klar werden), in der fachwissenschaftlichen Literatur zu wühlen oder auch
nur die vorangegangene Diskussion in den MDAV erneut in die Hand zu nehmen.
Als ich in H. Mundings Beitrag las: „wobei er sich m. E. am Komparativ yAuxaMV als frei
schaffender ,Kontaminator' nicht weiter zu stören brauchte", wallte es in mir schon auf; als ich
dann aber an die Stelle kam, wo D. Lohmann in seiner Replik schreibt: ,süßer' ist etwas ganz
anderes als ,süß' ", kochte es über.
Beide Autoren sind sich einig, daß Horaz zuallererst aus seinen eigenen Gedichten verstanden
werden müsse. Richtig! Richtig? Nein, falsch! Richtig ist gewiß, daß Horaz aus seinen Gedichten
verstanden werden muß, bevor er oder statt daß er „von außen her gedeutet wird", wie Munding
schreibt. Aber zua//erersf muß Horaz a/s D/chferverstanden werden! Der Dichter, mag er Horaz
heißen oder anders, läßt sich wohl von anderen Dichtern anregen und schreibt dann, wie es
seiner Absicht entspricht, aber nicht, wie er es bei den anderen vorformuliert findet. Wenn Horaz
bei Homer liest, daß der Kampfeifer mit der Vorstellung „süß" verbunden wird, und wenn er das
nachvollziehen und davon ausgehen kann, daß auch sein Publikum das nachzuvollziehen
vermag, schreibt er eben: Dulce et decorum est pro patria mori. Das sieht wohl auch Munding
im Grunde so. Aber dann macht er aus dem Dichter Horazeinen frei schaffenden „Kontaminator",
und da schützen ihn dann auch die ironisierenden Krähenfüßchen nicht mehr: Er hat den Poeten
zum Philologen umfunktioniert (um nicht zu sagen: degradiert). Lohmanns Betrachtung über den
Unterschied zwischen Komparativ und Positiv vollzieht diese Umwertung noch konsequenter,
aber das spricht Munding nicht frei, denn er hat den Gedanken als erster ins Spiel gebracht und
damit bewiesen, daß er Horaz nicht poetisches, sondern philologisches Schaffen unterstellt.
Aus einem weiteren Grunde ist es falsch, Horaz zuallererst aus seinen Gedichten oder, wie es
Lohmann noch deutlicher sagt, aus dem Kontext seiner Gedichte verstehen zu wollen. Horaz
muß auch aus der Kenntnis seines Lebens verstanden werden. Daß die werkimmanente
Interpretation, die in der Nachkriegszeit bei den Deutschphilologen aufgrund verständlicher
historischer Bedingungen vorübergehend als allein gültige Methode galt, zum Verständnis von
Literatur nicht zureicht, hat sich längst erwiesen. Und wir wissen nun eben, daß Horaz, als er
seine Gedichte schrieb, für sich selbst das Leben nach Epikurs Lehren bevorzugte, daß er aber
auch bereit war, seine Kunst in den Dienst des Kaisers Augustus zu stellen. Dabei konnte das
Abwägen der Werte schon dazu führen, daß der Dichter die politischen Interessen seines
Gönners, sei es aus Bewunderung, aus Pflichtgefühl oder gar aus materiellen Erwägungen, höher
stellte als seine privaten Überzeugungen. Das ging mitunter so weit, daß Horaz zweitausend
Jahre später sogar zum gesinnungslosen Hofschranzen erklärt werden konnte (von wem, weiß
ich im Augenblick nicht, prüfe es auch bewußt nicht nach). Dieser Abwertung von Horazens
Charakter schließe ich mich auf keinen Fall an; aber der Hinweis auf sie scheint mir nützlich,
um aufzuzeigen, daß keines Dichters und schon gar nicht Horazens Lebensweg und Charakter
so einheitlich sind, daß man von einem „ganzen Kontext seiner Gedichte" sprechen kann, wie

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