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Einleitung
im lateinischen Europa zu verringern, wohl aber intern Machtverhältnisse,
Abhängigkeiten und Handlungsräume zu verschieben."" Wie jedoch genau das
Amt des Königs auszuüben war, auf welchen Fundamenten es ruhte, welche
Mittel zur Verfügung standen, um Herrschaft auszuüben, war Ergebnis juristi-
scher, politischer und bisweilen gewaltsamer Auseinandersetzungen. Mochte
die Herrschaftsform als ganzes über die Zeiten hinweg stabil bleiben, so sind
die Herrschaftsstrukturen der europäischen Königreiche nicht mit einem ein-
zigen Modell zu erfassen."" Der Kaisertumsgedanke des mittelalterlichen Rei-
ches, dessen Herrscher bisweilen drei Kronen vereinte, widersetzte sich durch
den universellen Geltungsanspruch jeder Gleichsetzung und Einordnung in ein
schlüssiges System der Königreiche. Verglichen mit dem staufischen Kaisertum
bot das spätmittelalterliche Reichsoberhaupt im Hinblick auf Machtausübung
und Herrschaftsgewalt allerdings nur mehr das schauerliche Bild vom Mann
unter der Karlskrone, wie es von Walter Ullmann bezeichnet wurde.'"' Dem
stehen die Bestrebungen einzelner Dynastien gegenüber, nicht nur unmittelbar
die Kaiserkrone/"' sondern durch kaisergleiche Gewalt eine Aufwertung des ei-
genen Königtums zu erlangen.'"* Somit kam es im spätmittelalterlichen Europa
zu heterogenen königlichen Herrschaftsgefügen, die individueller Provenienz
waren und ungleichen Entwicklungsschüben unterlagen. »Die curiosa in ihrer
Struktur waren das Übliche«, wie Percy Ernst Schramm vergleichend urteil-
te.'"' Entsprechend unterschiedlich waren auch die Selbst- und Fremdsichten
der Königreiche in der gegenseitigen Wahrnehmung, wobei der Gedanke einer
Gemeinschaft christlicher Königreiche im Mittelalter in Ansätzen vorhanden
war, jedoch nicht zu einer tragfähigen Konstruktion gedeihen konnte.'"" Die
Idee einer »Familie der Könige«, die in abhängigen Verhältnis zu einem Ober-
haupt stehen, wie es vom byzantinischen Kaiserreich gepflegt wurde, fand im
Westen kein wirksames Pendant, sieht man von den tatsächlichen Verwandt-
schaftsverhältnissen durch Konnubium ab.'"'
Die heute zugänglichen Textzeugen der Zeit bringen eindrucksvoll zum
Ausdruck, wie wenig klar und unumstritten diese Herrschaftsform den spät-
mittelalterlichen Zeitgenossen in ihren distinkten Mechanismen und Ausfor-
mungen war. Worüber damals berichtet, kommentiert, reflektiert, räsoniert
und systematisierend nachgedacht wurde, stellte für die historische Forschung
seit jeher den wichtigsten Ausgangspunkt zu Untersuchungen über das König-
98 WoLF, Prinzipien der Thronfolge in Europa um 1400, S. 233f., 271 zählt neben Frankreich, Eng-
land, Schottland, Portugal, Kastilien, Navarra, Aragon, Sizilien, Neapel, Ungarn, Böhmen, Po-
len, Schweden, Norwegen, Dänemark, Deutschland, noch Italien (Lombardei) und Burgund
(Arelat) hinzu.
99 SCHULZE, Art. »Monarchie« in: Historische Grundbegriffe Bd. 4, S. 141-168.
100 ULLMANN, Principles of Government, S. 206.
101 ZELLER, Les rois de France candidats ä l'Empire.
102 Zu den unterschiedlichen juristischen und geschichtlichen Argumentationsmustern vor allem
aus französischer Perspektive vgl. WALTER, Imperiales Königtum, S. 85-110.
103 ScuRAMM, Die Krönung im katalanisch-aragonischen Königreich, S. 577-598.
104 CHRYSOS, Perceptions of the International Community of States during the Middle Ages, ins-
bes. S. 305-307.
105 DöLGER, Die »Familie der Könige« im Mittelalter, S. 397f.
Einleitung
im lateinischen Europa zu verringern, wohl aber intern Machtverhältnisse,
Abhängigkeiten und Handlungsräume zu verschieben."" Wie jedoch genau das
Amt des Königs auszuüben war, auf welchen Fundamenten es ruhte, welche
Mittel zur Verfügung standen, um Herrschaft auszuüben, war Ergebnis juristi-
scher, politischer und bisweilen gewaltsamer Auseinandersetzungen. Mochte
die Herrschaftsform als ganzes über die Zeiten hinweg stabil bleiben, so sind
die Herrschaftsstrukturen der europäischen Königreiche nicht mit einem ein-
zigen Modell zu erfassen."" Der Kaisertumsgedanke des mittelalterlichen Rei-
ches, dessen Herrscher bisweilen drei Kronen vereinte, widersetzte sich durch
den universellen Geltungsanspruch jeder Gleichsetzung und Einordnung in ein
schlüssiges System der Königreiche. Verglichen mit dem staufischen Kaisertum
bot das spätmittelalterliche Reichsoberhaupt im Hinblick auf Machtausübung
und Herrschaftsgewalt allerdings nur mehr das schauerliche Bild vom Mann
unter der Karlskrone, wie es von Walter Ullmann bezeichnet wurde.'"' Dem
stehen die Bestrebungen einzelner Dynastien gegenüber, nicht nur unmittelbar
die Kaiserkrone/"' sondern durch kaisergleiche Gewalt eine Aufwertung des ei-
genen Königtums zu erlangen.'"* Somit kam es im spätmittelalterlichen Europa
zu heterogenen königlichen Herrschaftsgefügen, die individueller Provenienz
waren und ungleichen Entwicklungsschüben unterlagen. »Die curiosa in ihrer
Struktur waren das Übliche«, wie Percy Ernst Schramm vergleichend urteil-
te.'"' Entsprechend unterschiedlich waren auch die Selbst- und Fremdsichten
der Königreiche in der gegenseitigen Wahrnehmung, wobei der Gedanke einer
Gemeinschaft christlicher Königreiche im Mittelalter in Ansätzen vorhanden
war, jedoch nicht zu einer tragfähigen Konstruktion gedeihen konnte.'"" Die
Idee einer »Familie der Könige«, die in abhängigen Verhältnis zu einem Ober-
haupt stehen, wie es vom byzantinischen Kaiserreich gepflegt wurde, fand im
Westen kein wirksames Pendant, sieht man von den tatsächlichen Verwandt-
schaftsverhältnissen durch Konnubium ab.'"'
Die heute zugänglichen Textzeugen der Zeit bringen eindrucksvoll zum
Ausdruck, wie wenig klar und unumstritten diese Herrschaftsform den spät-
mittelalterlichen Zeitgenossen in ihren distinkten Mechanismen und Ausfor-
mungen war. Worüber damals berichtet, kommentiert, reflektiert, räsoniert
und systematisierend nachgedacht wurde, stellte für die historische Forschung
seit jeher den wichtigsten Ausgangspunkt zu Untersuchungen über das König-
98 WoLF, Prinzipien der Thronfolge in Europa um 1400, S. 233f., 271 zählt neben Frankreich, Eng-
land, Schottland, Portugal, Kastilien, Navarra, Aragon, Sizilien, Neapel, Ungarn, Böhmen, Po-
len, Schweden, Norwegen, Dänemark, Deutschland, noch Italien (Lombardei) und Burgund
(Arelat) hinzu.
99 SCHULZE, Art. »Monarchie« in: Historische Grundbegriffe Bd. 4, S. 141-168.
100 ULLMANN, Principles of Government, S. 206.
101 ZELLER, Les rois de France candidats ä l'Empire.
102 Zu den unterschiedlichen juristischen und geschichtlichen Argumentationsmustern vor allem
aus französischer Perspektive vgl. WALTER, Imperiales Königtum, S. 85-110.
103 ScuRAMM, Die Krönung im katalanisch-aragonischen Königreich, S. 577-598.
104 CHRYSOS, Perceptions of the International Community of States during the Middle Ages, ins-
bes. S. 305-307.
105 DöLGER, Die »Familie der Könige« im Mittelalter, S. 397f.