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Mauntel, Christoph; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Gewalt in Wort und Tat: Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich — Mittelalter-Forschungen, Band 46: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34763#0032

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11 Gewalt als Begriff

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(1987) verstanden die Gewalt als tief im menschlichen Wesen verankert: Beide
gingen von religiös motivierter Gewalt zum Zweck einer Opferung aus und
betonten daraus resultierende affektive Grundhaltungen als überkulturelle
Muster (GirarcE') bzw. die Überwindung einer Tötungshemmung durch die
Widmung des Jagderfolgs an Götter (BurkerW). Die Kritik an diesen Theorien
betonte dagegen, dass Begriffe wie ,Opfer' selbst kulturelle Konzepte seien,
die keineswegs als anthropologisch konstant angenommen werden könnten A
Ausgehend von neurobiologischen Erkenntnissen beschrieb Joachim Bauer
(2011) menschliche Aggression dagegen nicht als zerstörerischen Trieb, son-
dern als natürliche und notwendige Verhaltensform zum Selbstschutz: Mit
Aggression reagiere, wer ausgegrenzt, missachtet oder gedemütigt werde.
Gewalttätigkeit sei demnach nur der letzte Ausweg, wenn Aggression auf
keinem anderen Weg kommuniziert werden könne.^ Eine andere soziologi-
sche Perspektive entwickelte Randall Collins (2008), der Gewalt als situati-
onsbedingten Prozess auffasst, der sich in einem emotionalen Feld zwischen
Angst und Anspannung abspiele. Dieses müsse überwunden werden, damit
es zu Gewaltausübung kommen könne. Ähnlich wie bei Bauer erscheint Ag-
gression und Gewalt also nicht als menschliches Grundbedürfnis, sondern
eher als grundlegendes Reaktionsschema in spezifischen Situationen.^
Diesen Theorien gegenüber steht die Meistererzählung der zunehmenden
Zivilisierung der Menschheit, deren Haupt Vertreter Norbert Elias mit seinem
Werk „Über den Prozess der Zivilisation"^ (1939) ist. Anhand zunehmender
Affektkontrolle und sich verfeinernder Sitten im Bereich der Sexualität und
Ess- und Trinkkultur postuliert Elias sich wandelnde Persönlichkeitsstruktu-
ren, auf die er seine Zivilisationstheorie gründet. Die mittelalterliche Gesell-
schaft stellt er entsprechend als durch affektiv begangene Gewalt geprägt dar.

stark emotional geprägt sieht. Das menschliche Zusammenleben beruhe auf der Androhung
von Sanktionen, falls Normen übertreten werden, und sei damit grundsätzlich labil; vgl.
Riekenberg, Gewalttheorie, bes. S. 112f. Hannah Arendt differenziert hier genauer: Jedes Ge-
meinwesen bringe automatisch Macht hervor (bzw. eine Person oder Gruppe, der diese über-
tragen werde), die der Legitimation bedürfe. Gewalt dagegen sei ein spezifisches Mittel, dass
bei gefährdeter oder verlorener Macht Einsatz finde; Arendt, Macht, S. 43-57.
Girard, Violence; Girard, Gewalt. Kritisch dazu Liebsch, Lebensformen, S. 314f.; Oswald, Gabe,
S. 51f.; vgl. Braun/Herberichs, Einleitung, S. 9f. sowie Niethammer, Anthropologie.
62 Burkert, Anthropologie; siehe auch Burkert, Homo necans. Vgl. Braun/Herberichs, Einleitung,
S. lOf. Siehe dazu das Interview mit dem Neuropsychologen Thomas Elbert „Du darfst nicht
immer töten", in: ZEIT online 18.08.2011, URL: [http://www.zeit.de/wissen/2011-08/thomas-
elbert-interview] (05.02.2014).
63 Mack, Introduction, S. 51-70.
64 Bauer, Schmerzgrenze. Dazu Zimmermann, Gewalt, S. 49f. Ähnlich argumentieren auch
Muchembled, Histoire, S. 19-25, sowie Scheff/Retzinger, Emotions, S. 167-180, die allerdings
den Aspekt der ,Scham' betonen.
66 Collins, Violence. Ebenso bei Schäfer/Thompson, Gewalt, bes. S. 12: „Dass Gewalt aus der
Situativität sozialer Interaktionen hervorgehen kann, lässt sich an sozialen Ereignissen mit vie-
len Beteiligten aufzeigen."
66 Elias, Prozeß.
 
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