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Mauntel, Christoph; Schneidmüller, Bernd [Bibliogr. antecedent]; Weinfurter, Stefan [Bibliogr. antecedent]
Gewalt in Wort und Tat: Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich — Mittelalter-Forschungen, Band 46: Ostfildern, 2014

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.34763#0240

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21 Formen kollektiver Gewalt

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sind hingegen überschaubar und relativieren die Darstellungen der Chronis-
ten.^
Es soll hier jedoch nicht um eine Inventarisierung von Gewalttaten gehen,
sondern um die narrativen Strategien der zeitgenössischen Chronistik. Dabei
ist es wichtig zu betonen, dass die Gewaltzuschreibungen, die im Folgenden
im Mittelpunkt stehen, in ein ganzes Set an erzählerischen Mitteln eingebettet
sind, mit denen die Aufständischen diskreditiert werden sollten. So wurde
die Führungslosigkeit der Aufständischen betont (saus sie selbst pejo-
rativ beschrieben (ces esfnmges ihnen wurde jede Rationalität (gcns
und letztlich sogar die Menschlichkeit abgesprochen (sic cmma rchic'"").
Zielten diese Benennungen auf eine generelle Ausgrenzung der Aufständi-
schen als Gruppe, nutzten die Chronisten darüber hinaus gezielte Beschrei-
bungen von Gewalttaten, um Ablehnung und Abscheu zu provozieren und
die Gewaltausübenden durch ihre vermeintlichen Taten als grausam und
barbarisch darzustellen.
Eine generelle Schreckensvision, die von fast allen Chronisten erwähnt
wird, ist die Vorstellung, die J%ct?MCS „wollten alle Adligen Frankreichs töten
und vernichten und alle ihre Burgen zerstören.""" Die grauenerregende Wir-
kung dieses Szenarios lag für die Zeitgenossen vermutlich weniger im impli-
zierten Massenmord, sondern eher in der ständischen Dimension: Indem sich
die niederen heute gegen den Adel wandten, drohten sie die gesamte Gesell-
schaftsordnung umzustoßen und das Unterste nach oben zu kehrert'A Damit
war nicht nur das heben der Adligen, sondern die göttliche Ordnung generell
in Gefahr. Dass es den Chronisten eher um eine unterstellte Sozialrevolution
denn um den Vorwurf des Massenmords ging, belegt auch eine Bemerkung
Froissarts, der das Ziel der Vernichtung des Adels gleich um die intendierte
Zerstörung der ,Heiligen Kirche' ergänzte und damit eindeutig auf tragende
Ordnungs vor Stellungen abzielte (und nicht etwa auf das Töten individueller

% Siehe dazu Bommersbach, Violence; Bommersbach, Gewalt; Bulst, Kollektive Gewalt.
97 Jean le Bel, Chronique, Bd. 2, S. 256. Siehe auch Froissart, Chroniques (SHF), Bd. 5, S. 99 (1,413);
Chronique des quatre premiers Valois, S. 75.
96 Jean le Bel, Chronique, Bd. 2, S. 259. Siehe dazu Challet, L'exclusion, S. 384f.
99 Redts, S. 295. Siehe auch Chronique des quatre premiers Valois, S. 171: CoMimc gcws dcsucz d
/orccncz d de pdd ensierd. Chronique du Religieux, Bd. 1, S. 46: (...) Mcc reg; nowrard ordine
radonis. Siehe dazu Challet, L'exclusion, S. 375f.
i°° Chronique de Richard Lescot, S. 126. Die Redts, S. 295, fassten das in folgender Formel
zusammen: Lfne marderc de gens /oF, rdwsfes, dndaMX, üdaMd's ei edoi/s. Siehe dazu Bulst, Jac-
querie, S. 806.
Car d udoieni odn're ei desirnire ioMS ies genids dommes de France ei adaiire ioniies ieMrs^brieresses.
Redts, S. 295. Weitere Belege: S. 227, Anm. 28, sowie S. 245, Anm. 136. Neben dem Adel galten
die ,Reichen' als klassisches Ziel von Aufständischen: Froissart, Chroniques (SF1F), Bd. 4, S. 175
(1,363); Chronique des quatre premiers Valois, S. 298. Die genaue Analyse der Opfer(zahlen)
ergibt dagegen, dass keineswegs massenhaft Adlige gezielt getötet wurden: Bommersbach,
Gewalt, S. 75f. spricht von ca. 30 nachprüfbaren Tötungen und führt als Gegenbeleg für das
vorgebliche Ziel, ade Adligen zu töten, eine Szene an, in der ein Adliger getötet, eine Frau aber
wegen ihres hohen Alters verschont wurde, Paris, AN, 23, fol. 491-493. Siehe auch Bulst,
Kollektive Gewalt, S. 157.
102 Medeiros, Jacques, S. 32f., schreibt vor allem Jean le Bel die Tendenz zu, die JaajMcn'c als Ge-
genbild der ritterlichen Welt zu stilisieren.
 
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