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Mauntel, Christoph; Schneidmüller, Bernd [Bibliogr. antecedent]; Weinfurter, Stefan [Bibliogr. antecedent]
Gewalt in Wort und Tat: Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich — Mittelalter-Forschungen, Band 46: Ostfildern, 2014

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.34763#0300

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31 Formen interpersoneller Gewalt

299

geben zu haben, sondern ging seinerseits in die Offensive. In einer vierstün-
digen Rede ließ er im März 1408 Jean Petit, ein Mitglied der Pariser Universi-
tät, den Mord als Tyrannenmord rechtfertigen.'^ Dabei deutete er den ur-
sprünglichen, aristotelischen Begriff des Tyrannen um: Als Tyrann charakte-
risierte er nicht nur den, der Macht usurpierte, sondern auch alle, die gegen
das Hen com MM handelten.^ Die Rechnung ging auf: Die Partei Orleans' war
schockiert und damit handlungsunfähig - und Burgund konnte sich am Pari-
ser Hof durchsetzen.^' Johann wurde nun begnadigt, ohne je um Gnade gebe-
ten zu haben. Mehr noch: Auch ein Ausgleich mit der Familie des Opfers
blieb aus.i42

Fallbeispiel 4: Der Mord an Johann Ohnefurcht, 1419
In den Folgejahren verlor Johann nach und nach an Boden in Paris, vor allem
nach dem Ende des proburgundischen Aufstands der CohodueMS 1413 in Paris.
Er zog sich in seine eigenen Länder zurück, während sich die anti-
burgundische Partei unter Bernard VII., Graf von Armagnac, neu formierte.^
Für sie stellte der Mord an Ludwig (immerhin ein Bruder des Königs) ein
Majestätsverbrechen dar, das gesühnt werden musste.'^ In langen Reden
wurde die Tyrannenmordtheorie Jean Petits kritisiert und bestritten: Schon im
September 1408 antwortete Thomas du Bourg, Abt von Cerisy, auf Petit, in-
dem er dessen Definition eines Tyrannen aufnahm und Punkt für Punkt zu
widerlegen suchte, dass diese auf Ludwig von Orleans zutreffeV Jean Petit
erweiterte daraufhin seine Rechtfertigung des Herzogs von Burgund/^ wo-
raufhin sich Jean Gerson, Kanzler der Pariser Universität, im September 1413

139 Am häufigsten zitiert nach Monstrelet, Chronique, Bd. 1, S. 177-242, bzw. in einer längeren
Version in der Edition von Buchin: Chroniques d'Enguerrand de Monstrelet, Bd. 1, S. 241-324.
Vgl. dazu Coville, lean Petit, S. 141f. und 160-168, der beide Versionen jedoch für durch Kopis-
ten oder Monstrelet selbst verändert hält und insgesamt vier Handschriften mit der originalen
Überlieferung identifiziert. Zur Überlieferung generell ebd., S. 133-168, sowie Coville, Veritab-
le texte. Siehe auch Chronique du Religieux, Bd. 3, S. 754—764; Chronique normande de Pierre
Cochon, S. 223-237. Zum Konzept des Tyrannenmords und der Diskussion im 15. Jahrhundert
siehe Leveleux-Texeira, Crime; Schulte, Treue; Bulst, France, S. 124—132; Minois, Couteau,
S. 83-95; Lewis, Jean Juvenal. Zum Konzept bei speziell bei Johann von Salisbury: Laarhoven,
Thou shalt not.
140 Minois, Couteau, S. 96-98.
141 Kintzinger, Maleficium, S. 90; Ehlers, Ludwig von Orleans, S. 110.
142 Minois, Couteau, S. 61 f.
143 Ursache hierfür war v.a. der Aufstand der sog. Gdwdn'cMS 1413. Zu Johann Ohnefurcht und
dem Mord von 1419: Schnerb, Armagnacs, S. 191-271; Minois, Couteau, S. 65-68, sowie die Bi-
ographien von Schnerb, Jean sans Peur und Vaughan, John.
144 Minois, Couteau, S. 63.
i43 Nach Coville, Jean Petit, S. 235f. befindet sich die ursprüngliche Fassung der Rede in Paris,
BnF, ms. fr. 10185. Monstrelet, Chronique, Bd. 1, S. 269-336, nennt als Autor fälschlich den Abt
von St. Fiacre und gibt eine Fassung der Rede wieder, die vermutlich eine zweite Redaktion
war. Eine gekürzte lateinische Fassung der Rede findet sich in der Chronique du Religieux,
Bd. 4, S. 92-128. Siehe auch Juvenal des Ursins, Histoire, S. 448. Vgl. zum Inhalt Coville, Jean
Petit, S. 236-248; zur Person und Textüberlieferung, ebd., S. 224-236; zum Aspekt der Gerech-
tigkeit bei Thomas siehe Schulte, Oh roy, S. 216f.
i46 Vgl. Coville, Jean Petit, S. 251-297.
 
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