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Mauntel, Christoph; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Gewalt in Wort und Tat: Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich — Mittelalter-Forschungen, Band 46: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34763#0417

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416

VI Vertiefungen

Die Schuld Gilles' de Rais wurde in der Forschung mehrfach angezweifelt
und er selbst als Opfer einer obrigkeitlich-kirchlichen Verschwörung dar-
gestellt. Als Argumente dieser kirchenkritisch fundierten Position wurden
einerseits Unregelmäßigkeiten im Prozess angeführt und andererseits der
Umstand, dass sowohl der Bischof von Nantes, Jean de Malestroit, als auch
der Herzog der Bretagne, Johann VI., persönliche Vorteile aus dem Verkauf
beziehungsweise der späteren Konfiskation von Gilles' Gütern gezogen hat-
ten.^ Mehrheitlich werden Gilles' im Prozess geschilderte Taten jedoch als
authentisch anerkannt, was aber für die Forschung die Frage nach ihrer Ein-
ordnung und Deutung aufwirft. Dem Abt Eugene Bossard erschien Gilles de
Rais 1875 geradezu als Ausgeburt der Bösartigkeit, für deren Einhegung es
eines starken Staates bedürfe 7°^ Auch der Bibliothekar und Schriftsteller
Georges Bataille betrachtete Gilles de Rais nicht als Einzelfall, sondern primär
aus seinem Interesse am unterbewusst-triebhaften und an psychologischen
Grenzbereichen heraus, wodurch Gilles zu einem überzeitlichen Beispiel für
menschliche Abgründe wurdet Entsprechend passten Gilles de Rais und
seine Vergehen für Bataille gut in das Gesamtbild „traditioneller Brutalitäten"
des Spätmittelalters, die vor allem der Krieg mit sich gebracht habe: Gilles
habe sich im Krieg nicht nur an das Blutvergießen gewöhnt, sondern Freude
daran bekommen und schließlich keine Grenzen mehr gekannt.^ Geistig
erschien er Bataille als naiv und kindlich und entsprach damit dem Typus des
mittelalterlichen Menschen, wie ihn schon Huizinga beschrieben hattet
Huizingas Entwurf des Spätmittelalters scheint auch in der psycho-
analytisch angehauchten Biographie Herubels von 1993 durch, den vor allem
der scheinbare Gegensatz zwischen den damaligen fortschrittlichen Entwick-
lungen in Kunst und Musik einerseits sowie abergläubischer Zauberei und
Magie andererseits irritierte. In diesen „Zeiten der Grausamkeit" wurde
Gilles de Rais für Herubel daher zum „Gefäß der dunklen Seiten" einer en-
denden Zivilisation, zum „Tragöden einer Gegen weit."^'"
Es sind diese metaphorisch-stilisierenden Wertungen, gegen die sich
Heers 1994 explizit wandte und daher Gilles als einfachen adligen Grund-
herren in den Blick nehmen woüteZ" Auch Parsons kritisierte die Darstellung

205 Siehe z. B. Reinach, Gilles de Rais; sowie dessen Argumentation weitgehend wiederholend
Hernandez, Proces (dieses Werk wurde von Fernand Fleuret unter einem Pseudonym veröf-
fentlicht), sowie Bayard, Plaidoyer. Siehe dazu Heers, Gilles de Rais, S. 187-190 und 194-198;
Cazacu, Gilles de Rais, S. 182-184; Herubel, Gilles de Rais, S. 181 und 195-198; sowie zuletzt
Parsons, Sympathy.
206 Bossard, Gilles de Rais, S. 223.
207 Bataille, Proces, S. 271-571 (zuerst 1959). Siehe dazu Savy, Proces, S. 93; Berce, Bataille, S. 25.
Zur Gewalttheorie Batailles siehe Riekenberg, Gewalttheorie.
208 Bataille, Proces, S. 304-310 und 312-315, hier S. 304.
209 Ebd., S. 300f.; Huizinga, Herbst, S. 1, 29.
210 Et foMsJoMrs co paradoxe, cos confradichoMS. En cos fowps de ernandes, io rayinowoMi des woconos, io
douoioppomonf des arfs, de ia WMsi^MO, ia Jbi, uoisinoni auoc ia sorcoiiorio, ia magio. Giiios de Rais osf io
rocopfacio des Jäces ionoFroMsos tpd agiioni coiio/in de ciudisafion. li osf io fragodion d'MM anti-mondo.
Herubel, Gilles de Rais, S. 124.
2n Heers, Gilles de Rais, S. 8 und 14f. Im selben Jahr erschien eine weitere Biographie aus der
Hand von Cazacu, Gilles de Rais, der - theoretisch anspruchsloser - von der „Erforschung der
 
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