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Es ist von maltechnischer Seite her betrachtet worden [und trotz-
dem ist das Pentiment an der Hand eines der Engelchen bis vor kurzem
unbemerkt geblieben], noch öfter von Seiten der Kunstgeschichte, die
sich über die Entstehungszeit und die Wanderungen des Bildes klar zu
werden sucht.
Ganz ungeheuer oft ist es aber in völlig subjektivistischer
Weise angesehen worden, um dem Beschauer Gefühle zu erregen,
eigentlich zur Unterhaltung.
Dabei unterläuft sehr häufig der Sehfehler, daß an der rechten,
stark verkürzt gezeichneten Hand des Heiligen Sixtus sechs Finger gezählt
werden, oder daß die Madonna auf der Erdkugel stehe. Maria ist aber
dargestellt auf Wolken herab schreitend, und das kugelige Stück links von
ihren Füßen (also zu ihrer Rechten) gehört zum aufflatternden Mantel des
verehrenden Heiligen. Und was den angeblich sechsten Finger neben dem
kleinen Finger an der Hand des Heiligen Sixtus betrifft, so ist er nichts
als die verkürzte Ansicht des Kleinfingerballens der Hand).*)
Um einen Überblick über das Sehen in der Kunst zu erreichen, muß
ich bei Ihnen, v. A., darauf rechnen, daß es Ihnen bekannt ist, wie die
Entwicklung der Plastik und Malerei in verschiedenen Schulen früher stets
ein Fortschreiten vom unbehilflichen Sehen und Ausführen zum gesteigerten
Anschauen des künstlerisch Wirksamen und technisch Erreichbaren gewesen
ist. Auf die maschinelle Verbesserung der Werkzeuge war man wenig
bedacht.
Man kann doch gewiß von einem Fortschritt in der Malerei reden, wenn
man bei Cimabue (um 1300) anfängt und bis Michelangelo (geb. 1475, f 1564)
weitergeht, oder wenn die ältesten Venezianer und Muranesen verglichen
werden mit den Bellini, mit Carpaccio und schließlich mit Tizian. Dann
gibt es Perioden in der Kunstentwicklung, bei denen eine eigentliche
Steigerung des Kunstwertes mehr als strittig ist. Auf Michelangelo folgt
ein Bernini. Es folgen auf Tizian ein Tintoretto und Greco. In
manchen anderen Perioden der Kunstgeschichte ist eine gewisse Leerheit der
Kunstwerke festzustellen, wie in den klassizistischen Richtungen, besonders im
Empire. Der Fortschritt im Sehen der Maler um 1900 und bis heute ist ein
mehr eingebildeter als wirklicher Fortschritt. Ebenso im Sehen des Kleinen
wie des Großen, im Sehen feiner Töne und Abstufungen, der sogenannten
Valeurs, hat die alte Kunst Besseres. Vielleicht läßt sich feststellen, daß
einige neuere mehr auf farbige Reflexe und farbige Schatten achten als die
älteren Maler. Aber solche Farbenwirkungen auf Gemälden werden heute
schon weit Überboten durch die Farbenphotographie auf den Photochromen.
Das Kokettieren mancher Moderner mit dem verschwommenen Sehen der
*) Das weltberühmte Werk kommt in allen Handbüchern der Kunstgeschichte
vor und findet je nach der Richtung der Verfasser mancherlei sehr voneinander
abweichende Beurteilungen. Ähnlich so ist es in der eigentlichen Raffael-Literatur, und
noch schroffer sind die Meinungsverschiedenheiten in den Schriften, die eigens der
Madonna di San Sisto allein gewidmet sind. Vieles über diese Madonna wurde durch
C. Woermann in der „Kunst für Alle“ 1894 zusammengestellt. Einige andere Hinweise
in der zweiten Auflage meines Handbuches der Gemäldekunde (S. 52 ff.). Über die Auf-
stellungsart in der Dresdner Galerie vgl. „Studien und Skizzen“ Bd. I, S. 34.
Seither soll die Aufstellung verändert worden sein.
Es ist von maltechnischer Seite her betrachtet worden [und trotz-
dem ist das Pentiment an der Hand eines der Engelchen bis vor kurzem
unbemerkt geblieben], noch öfter von Seiten der Kunstgeschichte, die
sich über die Entstehungszeit und die Wanderungen des Bildes klar zu
werden sucht.
Ganz ungeheuer oft ist es aber in völlig subjektivistischer
Weise angesehen worden, um dem Beschauer Gefühle zu erregen,
eigentlich zur Unterhaltung.
Dabei unterläuft sehr häufig der Sehfehler, daß an der rechten,
stark verkürzt gezeichneten Hand des Heiligen Sixtus sechs Finger gezählt
werden, oder daß die Madonna auf der Erdkugel stehe. Maria ist aber
dargestellt auf Wolken herab schreitend, und das kugelige Stück links von
ihren Füßen (also zu ihrer Rechten) gehört zum aufflatternden Mantel des
verehrenden Heiligen. Und was den angeblich sechsten Finger neben dem
kleinen Finger an der Hand des Heiligen Sixtus betrifft, so ist er nichts
als die verkürzte Ansicht des Kleinfingerballens der Hand).*)
Um einen Überblick über das Sehen in der Kunst zu erreichen, muß
ich bei Ihnen, v. A., darauf rechnen, daß es Ihnen bekannt ist, wie die
Entwicklung der Plastik und Malerei in verschiedenen Schulen früher stets
ein Fortschreiten vom unbehilflichen Sehen und Ausführen zum gesteigerten
Anschauen des künstlerisch Wirksamen und technisch Erreichbaren gewesen
ist. Auf die maschinelle Verbesserung der Werkzeuge war man wenig
bedacht.
Man kann doch gewiß von einem Fortschritt in der Malerei reden, wenn
man bei Cimabue (um 1300) anfängt und bis Michelangelo (geb. 1475, f 1564)
weitergeht, oder wenn die ältesten Venezianer und Muranesen verglichen
werden mit den Bellini, mit Carpaccio und schließlich mit Tizian. Dann
gibt es Perioden in der Kunstentwicklung, bei denen eine eigentliche
Steigerung des Kunstwertes mehr als strittig ist. Auf Michelangelo folgt
ein Bernini. Es folgen auf Tizian ein Tintoretto und Greco. In
manchen anderen Perioden der Kunstgeschichte ist eine gewisse Leerheit der
Kunstwerke festzustellen, wie in den klassizistischen Richtungen, besonders im
Empire. Der Fortschritt im Sehen der Maler um 1900 und bis heute ist ein
mehr eingebildeter als wirklicher Fortschritt. Ebenso im Sehen des Kleinen
wie des Großen, im Sehen feiner Töne und Abstufungen, der sogenannten
Valeurs, hat die alte Kunst Besseres. Vielleicht läßt sich feststellen, daß
einige neuere mehr auf farbige Reflexe und farbige Schatten achten als die
älteren Maler. Aber solche Farbenwirkungen auf Gemälden werden heute
schon weit Überboten durch die Farbenphotographie auf den Photochromen.
Das Kokettieren mancher Moderner mit dem verschwommenen Sehen der
*) Das weltberühmte Werk kommt in allen Handbüchern der Kunstgeschichte
vor und findet je nach der Richtung der Verfasser mancherlei sehr voneinander
abweichende Beurteilungen. Ähnlich so ist es in der eigentlichen Raffael-Literatur, und
noch schroffer sind die Meinungsverschiedenheiten in den Schriften, die eigens der
Madonna di San Sisto allein gewidmet sind. Vieles über diese Madonna wurde durch
C. Woermann in der „Kunst für Alle“ 1894 zusammengestellt. Einige andere Hinweise
in der zweiten Auflage meines Handbuches der Gemäldekunde (S. 52 ff.). Über die Auf-
stellungsart in der Dresdner Galerie vgl. „Studien und Skizzen“ Bd. I, S. 34.
Seither soll die Aufstellung verändert worden sein.