Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 16.1925

DOI Heft:
5. Heft
DOI Artikel:
Wauer, William: Offener Brief an Herrn Dr. Behne
DOI Artikel:
Wauer, William: Das entdeckte Gehirn, [2]
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.47215#0109

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
seine Aufmerksamkeit anfangs allein in An-
spruch nehmen; es verfolgt mit seinen Blicken
die wandernde Lampe oder Kerze; sich be-
wegende Licht- und Schattenpartien fesseln
sein Interesse,
Dieser mit ganz schwachen Wahrnehmungen
beginnende Denkprozeß bezieht sich bei der
photographischen Platte wie beim Kinde aus-
schließlich auf das Entstehen bildmäßiger
Eindrücke, auf das Werden von Anschauung,
Sie können diesen Denkprozeß aber leicht
vervollständigen durch die Annahme, daß in
gleicher Weise aufgenommene Hör- und
Tasteindrücke von ihrem Entstehen aus
Wahrnehmung und durch Entwicklung bis
zur Erkennung des Wahrgenommenen Ihnen
in gleicher Weise zum Bewußtsein gebracht
werden. Es entstünde dann bis zur Voll-
endung des ganzen Eindrucks, den Sie aus
der Wirklichkeit aufnehmen können, sein
künstlich vorgeführtes lebendiges Gleichnis,
Diese Vorstellung kann Ihnen ein Abbild des
gesamten Denkprozesses in seinem Anfangs-
stadium vermitteln, wenn sie ihn auch nicht
erschöpft. Jedenfalls läßt sich das deutlich
erkennen, worauf es mir bei diesen Ausfüh-
rungen ankam, daß nämlich der Rückbezug
beim Denken auf Gedachtes, den das Er-
kennen braucht, dadurch möglich wird, daß
sich gleichsam Wahrnehmungsatom zu Wahr-
nehmungsatom fügt, daß ein allmähliches Zu-
sammenballen und Anwachsen nach und nach
den Erfahrungskörper aus den ersten
schwachen Wahrnehmungen heraus ent-
wickelt, Es entwickelt aus den Bedingungen
der Gehirntätigkeit Erfahrung, Gedächtnis,
Das noch undeutliche, werdende Denken des
Kindes und der Primitiven macht deshalb
noch keine oder wenige oder nur die ihm
möglichen Rückschlüsse, sein Erkennen bleibt
lückenhaft und verschwommen infolge des
Mangels bestimmter Erfahrungen, an die es
anknüpfen könnte. Aber die Erfahrung
wächst und festigt sich, und damit wachsen
die Möglichkeiten der Relation und Apper-
zeption, der Bezugnahme und der Aneignung
von Unbekanntem und Neubekanntem durch
Anknüpfung an bereits Bekanntes.
An dieser Stelle tritt eine Eigentümlichkeit
des Erkennungsvorganges so auffällig in Er-
scheinung, daß sie Ihnen schon aufgefallen
sein wird.
Ich meine die eng bestimmte Selektion, wie
die Gelehrten es nennen, die entscheidende

Auslese und Beschränkung der Wahrneh-
mungen auf ganz gewisse, die eingegliedert
werden können.
Sie ergibt sich eben daraus, daß sich das
Neue und noch Unbekannte nur an Passen-
des, Aehnliches, bereits Bekanntes durch
Vergleich in Beziehung setzen und anknüpfen
läßt, so daß es „erkannt" werden kann.
Dagegen bleibt jedes Neue und Fremde, das
keine Beziehung zu bereits in der Erfahrung
Vorhandenem findet, unerkannt, unanerkannt
und befremdlich rätselhaft.
Völlig Unbekanntes und Fremdes und Wider-
sprechendes kann darum nicht „erkannt"
werden, es wird nicht aufgenommen und
scheidet wieder aus. Es haftet nicht. So
gehen auch starke Eindrücke, die nicht in
uns Wurzel fassen können, nach und nach
wieder verloren. Was der Mensch nicht ver-
steht, geht an ihm vorüber. Der Vorgang als
solcher kann sich höchstens in seiner Erinne-
rung festsetzen als Unsicherheit und Beun-
ruhigung, aber er kann seinem Wesen nach
von ihm nicht bewußt gedacht und nicht in
ihm Wissen werden; denn dazu gehört Er-
kenntnis und Verständnis.
Ich könnte Ihnen wahrscheinlich die Kon-
struktion einer Nähmaschine ziemlich genau
erklären ohne Ihr Verständnis zu finden, weil
Sie eben die Konstruktionselemente von
Maschinen im allgemeinen und die einer
Nähmaschine im speziellen nicht erkennen
würden, da sie Ihnen zu fremd wären.
Verstehen heißt sich etwas anschaulich
machen können.
Anschaulich machen kann man sich aber
eben nur etwas bereits Gesehenes oder ein
Aehnliches,
Auch die Einsteinsche Relativitätslehre muß
Ihnen unbegreiflich bleiben, wenn Sie ihre
mathematischen Elemente nicht erfassen, ihre
Gedankenkurven nicht abtasten und wenig-
stens gefühlsmäßig kontrollieren können.
Auch Negermusik oder die der Japaner dürfte
Sie nicht „ansprechen", weil die Erregung,
die die fremden Rhythmen und Klänge in
Ihnen wachrufen, Ihnen nur seltsam und un-
verständlich vorkommen kann. Sie können
sie in Ihr Empfinden nicht aufnehmen, wie
es der Fall wäre, wenn Sie an japanische
Musik, die bekanntlich nur fünf Intervalle auf
der Strecke unserer Oktave besitzt, bereits
gewöhnt wären und kennen würden. Das
Wiedererkennen würde dann auch bei Ihnen

75
 
Annotationen