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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 16.1925

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5. Heft
DOI Artikel:
Wauer, William: Offener Brief an Herrn Dr. Behne
DOI Artikel:
Wauer, William: Das entdeckte Gehirn, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.47215#0110

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Mit-Empfindung, also Erkenntnis von alten
Ohreindrücken hervorrufen.
Die eben erörterte Art der Auslese begrün-
det die Eigenart jedes individuellen Denkens
und die Schwierigkeiten des Umlernens und
der Umstimmung eines Mitmenschen durch
andere ihm bisher unzugängliche Meinungen
oder völlig neue Erfahrungen.
Immerhin wird trotz der bestimmten Auslese
bei Weiterbildung des Gedächtnisses stets
auch eine Umbildung miteinbegriffen sein, da
ja gleiche Wahrnehmungen auf die Dauer
nicht möglich sind. Kleine und kleinste Ab-
weichungen aber sind schließlich auch im-
stande, eine Erkenntnisrichtung und be-
stimmte Denkart völlig zu verändern, ja um-
zukehren. Das braucht nur Zeit und große
Reihen geeigneter und entsprechender Sin-
neseindrücke. Hier liegt die Möglichkeit,
seinen Mitmenschen etwas einzureden, sie zu
bekehren. Die Ausscheidung alter Gedächt-
nisteile spielt, wie Sie selbst beobachten kön-
nen, bei der Bildung neuer und Umbildung
abweichender Anschauungen eine ebenso
große Rolle wie die Kontinuierlichkeit des
Zuströmens neuer Wahrnehmungsaufnahmen.
Bei dem Vergleichen eines starken neuen
Eindrucks mit einer schwachen Erfahrung
gibt die Erfahrung natürlich dem Eindruck
mehr nach als im umgekehrten Falle, so daß
man mehr von ihrer Anpassung an den neuen
Eindruck sprechen kann; so daß also die ent-
stehende Erkenntnis den alten Gedächtnis-
eindruck sofort korrigiert oder eliminiert. Ein
sehr starker Neueindruck kann schließlich
auch überwältigend sein und sich gegen alles
Alte wenden, wenn er es auch zur Anknüp-
fung braucht.
So werden die Erfahrungen immer neu ge-
sichtet, an neuen Eindrücken gemessen, Irr-
tümer berichtigt und Fehler ausgemerzt.
Das Gedächtnis unterliegt in dieser Art
einem fortgesetzten Stoffwechsel, der es
lebendig erhält durch Selbsterneuerung.
Bis hierher geschieht das Denken in einer,
man möchte sagen, rein passiven Weise.
Aber infolge der Inanspruchnahme der Ner-
venleistungen durch Wahrnehmung und Re-
lation werden diese kraft ihrer Bewegungen
und der inneren Reibungsvorgänge — wenn
man sie so nennen darf — mit Reizen ge-
laden, die zur Entladung drängen. Sie wollen
sich der Arbeit, die sie leisten müssen, um
so mehr entledigen, je mehr sie angestrengt,

also eben mit Reizladungen beschwert
werden.
Hier kommt es nun zu einer Aktivität, zu
einem inneren Impuls, der sich deutlich be-
merkbar macht. Diese Aktivierung der
leistenden Nervensysteme bedeutet eine neue
Bedingtheit der Denkfunktionen. Der Impuls,
den wir Trieb oder Wille riennen, je nachdem
er aus Wahrnehmungs- oder ihren Verarbei-
tungsvorgängen stammt, wirkt sich nach
außen oder nach innen aus. Nach außen als
Tat, nach innen als Hemmung oder erhöhter
Antrieb bis zur Krankhaftigkeit. Er wirkt
seine Inhaltsreize aus, seine Inhaltsreize, die
quantitativ und qualitativ durch die Wahr-
nehmungsorgane eindeutig in Wirkung und
Richtung bestimmt sind.
Diese Auswirkungen führen zu einer Ver-
dichtung der Zellschicht der nervösen Bahnen,
die sie benutzen.
Wir wissen, daß jede Benutzung von Zellen,
jeder Reiz auf Zellen zu ihrer Vermehrung
führt, die einer Art Brückenbau und Wege-
ebnung gleicht, wodurch die Leistungsfähig-
keit dieser Nervenbahnen sich steigert.
Diese Steigerung der Leistungsfähigkeit dicht-
zelliger, weil oft benutzter Nervenbahnen im
Gehirn bedingt und erklärt die Möglichkeit
und das Vorhandensein eines mehr oder
weniger guten Gedächtnisses. „Die Gehirn-
bahnen schleifen sich durch Benutzung aus“,
wie die Gelehrten sagen.
Hier liegt eine neue Bedingtheit des Den-
kens in der Differenzierung und Fixierung
von Gehirn- oder Nervenbahnen durch
Denkarbeit.
Die Relationen, die das Erkennen braucht,
werden also desto mehr erleichtert, je mehr
sie geübt werden.
Hier liegen die Bedingungen für die Höher-
entwicklung und Vervollkommnung des
menschlichen Denkens überhaupt.
In der Bildung der Nervenbahnen liegen auch
die organischen Grundlagen der Relation
selbst.
Solange ich Ihnen die Bildung der Nerven-
bahnen noch nicht erklärt hatte, habe ich
Ihnen die Vorgänge der Relation nur namhaft
machen, aber nicht beschreiben können. Ich
habe sie als ein „In-Beziehung-setzen“, „An-
knüpfen“, „Vergleichen“, „Anpassen“ be-
zeichnet. Was sie wirklich sind als orga-
nische Funktion, kann ich Ihnen jetzt erst
völlig klar machen, indem ich mit Ihnen diese

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