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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 16.1925

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11./12. Heft
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Schwitters, Kurt: Merfüsermär
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https://doi.org/10.11588/diglit.47215#0230

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gefühl füreinander haben: „Nun ist der Herr
Geheimrat plötzlich durch einen plötzlichen
Tod erlöst worden.“ Uebrigens nennen sich
die Marsier selbst Merfüsier. Und solch ein
Trianeder nennen sie Proun. In der vierten
Dimension können die Merfüsier nicht sehen,
sondern sie fehnen. Fehnen heißt Aufnehmen
vierdimensionaler Wirklichkeit durch einen
Sinn, der bei uns Menschen in unserer Erd-
gebundenheit gebunden ist. Das Dreidimen-
sionale jedoch kann der Merfüsier sehen,
hören, riechen, schmecken, fühlen, genau wie
wir Menschen.
Zu jener Zeit arbeitete in Ambri-Sotto, am
Südabhang des heiligen St. Gotthard, ein
Mann namens Lissitzky aus Witebsk bei
Moskau. Schon als Kind hatte er in seinem
Wesen viel Transcendentales gehabt, indem
er nur die andere Seite der Welt liebte, die
metaphysische oder merfüsische. Dieser
Lissitzky arbeitete an der Erfindung des
Proun, das heißt, er wollte ein Fahrzeug bauen
zur Ueberwindung des unendlichen Raumes,
um neue, vorher nicht geahnte Natur zu ent-
decken. Und bei Lissitzky arbeitete ein
Elsässer aus jener Gegend, wo sich Deutsche
und Franzosen seit Jahrhunderten Gute Nacht
sagen, genannt Hans Arp, ein Wißbegehrer
und leidenschaftlicher Verehrer von allem
Transcendentalen, und daher auch von Lis-
sitzkys Prounen. Dieser Hans Arp konnte
nicht nur im Kaffeesatz der Sterne lesen, er
las sogar im Sande und las überall und las
in den Prounen von Lissitzky, daß ein Berg-
rutsch von außergewöhnlicher Größe sich
am 26. Juli 1926 bei Ambri-Sotto ereignen
würde. Vierundzwanzig Stunden vorher hatte
Arp an alle Journalisten der Welt telegraphiert
und sie von dem Bergrutsch unterrichtet, der
in 24 Stunden stattzufinden die hohe Ehre
haben würde. Und tatsächlich hatte er die
hohe Ehre. Und zwar genau nach 24 Stun-
den und zwar genau an der von Arp vorher be-
zeichneten Stelle und war von außergewöhn-
licher Größe. Der Eindruck in der Welt war
ganz ungeheuer. Man wußte nicht, ob man
mehr über die Proune staunen sollte, in denen
so etwas zu lesen stand, oder über den begab-
ten Wißbegehrer, der es lesen konnte. Man
unternahm Prozessionen nach Ambri-Sotto,
um Arp wie einen Ichneumon zu verehren, je-
doch begab sich dieser, ohne von dem welt-
lichen Geschrei viel Notiz zu nehmen, mittels

eines ausgezeichneten Fernrohrs auf den
gegenüberliegenden Berg, kroch in eine Glet-
scherspalte und las von dort aus, indem er
halb gebückt auf der linken Hand stand, das
Trümmerfeld ab, wies jegliche Nahrung und
Erfrischung zurück, lehnte es sogar ab, als
man ihm eine Wärmflasche bringen wollte,
sondern las und las, bis er die Sprache ver-
stand, ohne Diktionär. Und neben sich sam-
melte er riesige Haufen abgelesener Steine.
Darauf berichtete er das Resultat an alle Jour-
nalisten, und sie erfuhren, daß ein Wesen
vom Mars, ein ehemaliges Wiener Ferienkind
namens Hertha Maßlieb aus Wien, 12jährig
bei einer Frau Dr. Batke in Bern, infolge von
Schlag plötzlich verstorben wäre. Dieses We-
sen sei Marsierin geworden und habe dann
diesen Bergrutsch verursacht, um ihren An-
gehörigen damit einen Brief zu schreiben. Der
Bergrutsch wurde jetzt von allen Seiten photo-
graphiert, und die Behörden forschten nach
den tatsächlichen Unterlagen, wobei es sich
herausstellte, daß in der Tat im Jahre 1922
ein Wiener Ferienkind namens Hertha Maß-
lieb bei einer Frau Dr. Batke in Bern infolge
von Schlaganfall das Zeitliche gesegnet hatte.
Die Ueberraschung unter den Journalisten war
so groß, daß nun auch Frau Dr. Batke photo-
graphiert und neben den Bildern des Berg-
rutsches und Hans Arps in allen illustrierten
Journalen abgebildet wurde, und man bat den
Arp, dessen Ruhm nun Allgemeingut aller Ge-
bildeten geworden war, um nähere Angaben
über Wesen und Inhalt des Briefes. Wir
haben den von Hans Arp ursprünglich in
Schwyzer Dütsch überlieferten Brief folgen-
dermaßen übersetzt und veröffentlichen ihn
unter jedem Vorbehalt, einschließlich des Ver-
filmungsrechtes:
Liebe Mutter!
Du denkst jetzt, ich wäre vor zwei Jahren
am Schlag gestorben, aber Du irrst. Denn
ich bin Merfüsierin geworden. Ich wurde
seinerzeit in der Schweiz geparafiet, d. h.
meine materielle Hülle fiel von mir ab, und
ich durchlebe den Mars und bin sehr oft bei
Dir, Du merkst es nur nicht. Denn was Ihr
den Mars nennt, ist bloß seine Materie, weil
Ihr nur materiell denken und aufnehmen
könnt. Es ist der dreidimensionale Kern
des Mars, aber Mars ist alles, wie die Erde
alles ist und wie alles gleich alles ist, wenn
Ihr nur wollt und nicht materiell sondern

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