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M 1. Frankfurt a. M., den 6. April.

Inhalt:
Politische Uebersicht. — Unsere Lage und der Nationalverein. — Preu-
ßische Landtagsbriefe.— Oesterreich und die deutsche Presse. — Die Fortschritts-
partei und der Socialismus. — Mittheilungen aus dem Nationalverein.

Politische Uebersicht*).
Frankfurt, den 4. April 1865.
Die Erklärungen, welche Graf Mensdorff im Wiener
.Reichsrath über das Verhältniß zu Preußen gegeben hat, lassen
kaum noch einen Zweifel darüber, zu welchem Zwecke das
neuliche Wiederbclebnngswnnder an der Bundestagsleiche von
Oesterreich veranstaltet worden. Indem der Minister nach wie
vor den ungemeinen Werth betont, welchen die Aufrechthaltung
des preußischen Bündnisses für Oesterreichs Friedensbedürftig-
keit hat, gibt er deutlich genug zu verstehen, daß das Kunst-
stück weiter keinen Zweck hatte, als Preußen eine freundschaft-
liche Verwarnung zu ertheilen und ihm zu zeigen, wie Oester-
reich die Drähte der Frankfurter Maschinerie, trotz Alledem
und Alledem, noch immer in der Hand hält und sie nöthigen-
falls gegen den Alliirten in Bewegung setzen kann, wenn dieser
fortfährt so spröde und unzugänglich zu sein wie bisher. Und
der Wink ist in Berlin offenbar nicht ohne Eindruck geblie-
ben, das beweist zur Genüge der ungewöhnlich ernste, ja ge-
reizte Ton, den die dortige offiziöse Presse angeschlagen hat.
An ein ernstliches Entgegenkommen von Seite Preußens ist
freilich gleichwohl nicht zu denken, und wie auch immer, zu-
nächst durch die bevorstehende Abstimmung am 6. d. M., das
wunderliche Intermezzo zu Ende kommen mag, so viel ist
sicher, daß die geheime Spannung der beiden Mächte in der
nächsten Zeit weit eher gesteigert als vermindert werden wird.
Das Ergebniß der jüngsten Sitzung des Sechsunddreißi-
ger-Ausschusies in Berlin, wie cs in dem nunmehr veröffent-
lichten Protocoll vom 26. März vorliegt, kann vom Stand-
punkt der nationalen und liberalen Volkspolitik immerhin mit
Genugthuung begrüßt werden. Es ist damit, wie uns scheinen
will, ein Boden für die Vereinbarung der streitigen Ansprüche
und Interessen gewonnen, auf welchen sich alle aufrichtigen
Patrioten stellen können, sobald ihnen die Einmüthigkeit der
Nation und ihrer maßgebenden Kreise mehr am Herzen liegt
als die hartnäckige Behauptung dieses oder jenes ausschließlichen
Standpunkts. Es handelte sich hier in derThatum den Versuch einer
Ausgleichung zwischen zwei ebenmäßig werthvollen Anliegen,
welche in der schleswig-holsteinischen Sache einander bisher gegen-
überstanden: dem Interesse der Macht und Sicherheit Deutsch-
lands, welches für gewisse Einräumungen au Preußen spricht, und
dem Interesse des Volksrechts und' der Volksfreiheit, welches
nicht minder gebieterisch die Mitbestimmung der Schleswig-
Holsteiner au der Gestaltung ihrer Zukunft fordert. Gewiß,
die Zugeständnisse, welche Seitens der Abgesandten aus den
Herzogtümern gemackt wurden, sie werden einem großen Theil,
ja mau darf getrost sagen, der Mehrheit des preußischen Volkes
als ein Zuwenig, umgekehrt den süddeutschen Eiferern für
*) Wegen Plötzlicher Erkrankung des Herausgebers rnußle die kkeber-
sicht dieser ersten Nummer von dritter Hand abgefaßt werden.
Die Red.

1865.

die absolute Selbständigkeit Schleswig-Holsteins gar schon
als ein Zu viel erscheinen. Aber beiderseits wird man sich
sagen müssen, daß es doch vor Allem darauf ankommt, hier
eine mittlere Linie zu ziehen, und so die Gesammtheit der Na-
tion als ein wenn auch noch nicht staatlich, doch moralisch ver-
bundenes Ganzes zu constatiren. Welche Aussichten hat sonst
die ersehnte deutsche Einheit, wenn nicht bloß die Kabinette,
wenn auch die volkstümlichen Elemente und zwar nicht etwa
bloß nach Parteien, sondern nach „Stämmen" gruppirt, in un-
versöhnlichen Widerstreit gcrathen?
Freilich, damit die Frucht der Berliner Besprechung auch
wirklich ansreise, ist es unerläßlich, daß das preußische Ab-
geordnetenhaus seine bisherige Zurückhaltung ausgibt und sich
offen zu den Grundlagen des Verständigungsprogramms be-
kennt. Wir räumen gerne ein, daß die Stellung der Mehrheit
des Hauses auch zu der Herzogthümersache eine ungemein
schwierige und delikate ist, aber wir fürchten, daß ein fortge-
setztes Schweigen über die brennendste und wichtigste Tages-
frage der deutschen Politik Preußens weit übler nachwirken
würde, als ein etwaiger Conflikt mit der augenblicklichen Strö-
mung des öffentlichen Geistes im Lande dies vermöchte. Schwei-
gen bis zum Ende würde in einem solchen Falle kaum etwas
anderes heißen als abdanken, würde heißen zugestehen, daß
Preußens Volksvertretung und mit ihr seine gesammte liberale
Partei hier einem unlöslichen Dilemma zwischen Grundsatz
und Interesse verfallen, mit einem Wort, daß sie der Lage und
ihrer Ausgabe, in diesem Punkte wenigstens, nicht mehr ge-
wachsen ist.
Das preußische Abgeordnetenhaus hat die bekannten An-
träge seiner Budgetkommission sämmtlich genehmigt. Ferner
hat die Militärkommission dieses Hauses die Anfangs Februar
wieder Angebrachte Militärnovellc sammt allen dazu gestellten
vermittelnden Amendements verworfen. Das gleiche Schicksal
wird der Novelle ohne Zweifel im Hause selbst widerfahren,
und damit der letzte dünne Faden einer möglichen Verständi-
gung zerschnitten werden. Auch die Baukvorlage ist, und zwar
theils aus volkswirthschaftlichcn theils aus politischen Gründen,
verworfen worden. Dieser letztere Beschluß kam um so uner-
warteter, als das Haus kurz zuvor, durch die Annahme der
Eisenbahnvorlagen, die Staatspflege der materiellen Interessen
gleichsam als neutrales, dem Verfassungsstreit entrücktes Ge-
biet behandelt batte. Vergeblich wies Schulze-Delitzsch daraus
hin, daß keine Regierung in Preußen fortrcgicrcn könne, wenn
sie außer Stande, die großen materiellen Interessen zu wahren,
und daß es Sache des Hauses sei, ihr die Mittel dazu nicht
zu gewähren, sie mithin politisch auszuhungern. Wenn dieses
an sich unbestreitbare Argument gleichwohl nicht durchdrang,
so kann das nur daran liegen, theils daß das Haus die Hoff-
nung aus eiuen baldigen Sieg in seinem Kampfe gegen das
budgetlosc Regiment ausgegeben hat, theils daß es dem Preu-
ßischen Volke nicht die Fähigkeit zutraut, das Princip über den
Nutzen, die politische Freiheit über die materiellen Interessen
zu stellen. Jedenfalls hat das Haus mit dem fraglichen Be-
schlüsse die äußerste Grenze wo nicht überschritten so doch er-
reicht, bis wohin es gehen kann, ohne seiner eigenen Existenz
und seinem Recht auf Existenz den Boden allgemach unter den
Füßen wegzuziehen.
 
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