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Zeitschrift für christliche Kunst — 24.1911

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Witte, Fritz: Parallelen zwischen der französischen und niederrheinischen gotischen Plastik
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https://doi.org/10.11588/diglit.4275#0048

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ungen.

Parallelen zwischen der französischen
und niederrheinischen gotischen Plastik.

(Mit 2 Abb. auf
Tafel IV.)

ie Archive des Mittel-
alters scheinen nach
wie vor sich in tiefes
Schweigen zu hüllen
über die Zusammen-
« hänge zwischen den
rheinischen Kunstzentren und außer-
deutschen Werkstätten, die Kleinarbeit
muß alles das sammeln und bekannt-
geben, was uns Fährten zeigen könnte, und
solche führen — mehr als eine — weitab vom
Rheine westwärts und südwärts, nach Frank-
reich — Belgien und — auch nach Italien.
Dafür, daß Italien seine Werkleute zu uns
schickte, glaube ich demnächst in einer Mis-
zelle einen bündigen Beweis an dieser Stelle
erbringen zu können. Heute sollen sich zwei
Figuren gegenübergestellt werden, die ihre in-
timsten Beziehungen zu einander nicht verbergen
können, von denen die eine im Kunstgewerbe-
museum zu Köln, die andere in St. Die in
den französischen Vogesen sich befindet. Eine
Gegenüberstellung der beiden Stücke ist um
so instruktiver, als sie uns gewisse Richtlinien
weist, die rheinische, speziell Kölner Eigen-
arten als ganz selbstverständlich erscheinen
lassen innerhalb einer importierten Formenwelt.
Nichtdierein äußere Übereinstimmungzwischen
den beiden Figuren allein, die allerdings recht
aufdringlich in die Augen fällt, soll in den
Vordergrund gestellt werden, mag sie in diesem
Falle auch mitreden; die Empfindung, welche
in der französischen Skulptur zum Ausdruck
kommt, hat ein Kölner Bildhauer vielleicht
einige Jahrzehnte später nachempfunden und
ungewollt und unbewußt von lokal-kölnischen
Eigenarten leicht pointieren lassen. Die Madonna
von St. Die steht ihrer Entstehungszeit nach
präzise da, wo der Franzose resolut die Augen
öffnet und mit einem auf kirchliche, liturgische
Forderungen eingestellten Blick an die Natur
herantritt, um Erschautes und Erlebtes auch
in seinen heiligen Gestalten wiederzugeben.
Eine hoheitsvolle Frau und Königin, die etwas
schwermütig und gar zu ernst den überreifen

Christusknaben auf ihren Armen trägt, so trägt,
daß dieses Kind als eine wirkliche Last er-
scheint, nicht wie ein Scheinfigürchen ohne
Körper und Schwere, wie frühere Skulpturen
und Gemälde das zeigen. Das Gewand ist
nicht mehr Ornament, es ist lebender Stoff,
in dem eine Seele lebt wie in dem blut-
durchströmten Körper; Masse liegt neben
Masse, kompositionell energisch getrennt in zwei
Teile, von denen der eine dem Körper als
Hülle allein dient, der andere mehr für sich
existiert, indem er selbst wieder als wie eine
Gruppe von vielen Falten ein Wesen aus-
macht, fein empfunden neben, nicht an den
Körper sich legt und dadurch erst recht seine
Existenzberechtigung erweist. Er beläßt dem
Körper der Madonna all' seine Linien, seine
wohlproportionierte Schlankheit und Eleganz,
die klar und deutlich aus dem massig breiten
Stein sich loslöst. Das Kindchen ist in einer
eigenartig lieben Art mit der Mutter seelisch wie
formal verwachsen, ist so ganz selbstverständ-
lich, so natürlich in seiner Haltung und seiner
Handlung, rhythmisch abgewogen in seiner
Schwere. Die Kölner Madonna strebt un-
zweideutig dasselbe an, bleibt aber in der
Durchbildung gewissermaßen stecken, sagt
alles etwas derber. Die Massen sind stärker
zusammengehalten, als ob der Bildhauer vor
starken Überschneidungen sich gefürchtet hätte,
es fehlt die klare Disposition und Scheidung
zwischen diensttuenden und freien Partien.
Madonnen wie die des Kunstgewerbe-
museums sind selten, sie repräsentiert nicht
gerade einen in Köln geläufigen Typus und
ist für die Geschichte der Kölner Plastik von
größter Bedeutung. Lübbecke ') konfrontiert
sie mit der Madonna in St. Ursula, und doch
hat diese sich von der Quelle gar weit entfernt.
Wann entstanden die in Frage stehenden
Madonnen? Die „Documents de sculpture
francaise du moyen-äge" setzen die Figur
von St. Die' für die erste Hälfte des XIV. Jahrh.
an2). Mit gutem Recht. Creutz3) nimmt die
Zeit um 1350 für die Kölner Figur an, Lübbecke
scheint an das Ende des XIV. Jahrh. zu

') »Die gotische Kölner Plastik«, S. 102, Taf. 33.
-) Vitry et Biit-re, pl. LXXXXI1I.
^Jahresbericht des Kunstgewerbemuseum« 11)39,
Abb. 9. Höhe der Figur 1 m, Sandslein.
 
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