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Zeitschrift für christliche Kunst — 24.1911

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Schmarsow, August: Altenburger Galeriestudien
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https://doi.org/10.11588/diglit.4275#0154

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267

1911. _ ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST

Nr. 9.

208

in Cappella Castellani begrüßen müßten. Nur
leise neigt sich das majestätische Haupt der
Annunziata bei der Wendung nach dem Boten
hin: kein Ausdruck des Schreckens über den
Eindringling in ihrem Kämmerlein bewegt
ihre Züge mit den tiefliegenden Augen, der
gerade geschnittenen Nase unter der breiten
Stirn und dem etwas kleinen Mund über dem
scharfen Kinn. Nur die rechte Hand legt
sich auf die Brust und faßt so den Mantel,
der beide Schultern verhüllt, in der Mitte
zusammen, während die Linke ruhig, ein Buch
umspannend, am Schöße liegt. Zur ruhevollen
Charakteristik, fast einer selbstgewissen Ma-
trone schon vergleichbar, trägt auch die Sitz-
haltung bei, die hier gewählt ist, und die
Breite dieser truhenähnlichen Bank, auf der
sie eigentlich in Frontalansicht thront, wie als
vollendete Gottesgebärerin sonst. Der dunkel-
blaue Mantel über dem wenig sichtbaren,
karminroten Kleide bildet — in dem heutigen
Zustande vollends — eine nur wenig geglie-
derte Masse, die sich über dem quergestellten
Sockel erhebt. Neben ihr steht gegen die
freie Mitte zu als Wehr noch das Lesepult, in
strenger Parallele zu ihrem Sitze aufgestellt,
und auf der anderen Seite rechts schließt ein
hölzerner Pfosten ab, der mit dem Querbalken
über der breiten Öffnung den Einblick in das
Schlafgemach umrahmt, und daran stößt das i
Kopfende der Bettstatt und die Schlußwand
daneben.

Lassen wir das falsch übermalte Fußende
des Lagers außer Betracht, so erinnert der
authentische Rest doch ganz überraschend an
einige verwandte Einblicke ins Schlafgemach,
die wir aus Werken des Masaccio kennen.
Besonders die Predella mit der Legende
St. Julians im Musee Ingres zu Montauban,
die ich in meinem Atlas zu den Masaccio-
studien (1895—99) veröffentlicht habe, mag
hier genannt werden, obschon daneben auch
der Teller für die Wöchnerin und die Pre-
dellen zu Berlin zum Vergleich stehen. Schon
danach müßte der Maler unmittelbar zu Ma-
saccios nächsten Nachbarn gehören.

Dies Schlafgemach ist aber nur ein gleich-
sam provisorisch abgegrenzter Teil des Söllers,
auf dem Maria wohnt. Dessen Decke wird
durch eine Reihe schräggestellter Balken an-
gegeben, deren Übermalung nur schwer er-
kennen läßt, daß wirklich der offene Dach-
stuhl gemeint ist, dessen Firstbalken die

oberste Grenze der Bildfläche bildet, während
das untere Ende dieser in Untensicht ge-
zeigten Hälfte des Satteldaches auf der Um-
fassungsmauer aufruht, die wir als Schlußwand
des Wohnraumes zu sehen bekommen. Das
entspricht der fast ärmlichen Einfachheit, die
Vasari an jener Predella von Masaccio aus
S. M. Maggiore in Florenz mit der Legende
St. Julians ausdrücklich hervorhebt. An der
Rückwand des dargestellten Bodenraumes, der
Längsmauer also, erkennen wir dagegen eine
ebenso schlicht, ohne Schmuckformen aus-
kommende, doch sehr lebendig wirkende
Gliederung, die den Dachboden in ein klas-
sisches Solarium verwandelt. Die Mauer setzt
sich mit einem Fußgesims, fast könnte man
es einen zweistufigen Sockel nennen, gegen
den Estrich ab. Darüber sind in regelmäßigen
Abständen rechtwinklige Wandfelder nischen-
artig eingetieft, die ein fast quadratisches,
mit Eisengitter gegen die Außenwelt abge-
sperrtes Fenster enthalten. Dies aber öffnet
sich über einer Sohlbank, deren ganze Mauer-
breite abermals zurückspringt, so daß sich die
quadratische Form des Fensters zur stehend
rechteckigen Nische ergänzt, die so dem
größeren Rechteck der Gesamtumrahmung
entspricht. Alle diese Fensternischen mit
Gitteröffnung sind in scharfer Seitenbeleuch-
tung von links oben her gemalt und betonen
so die Stärke der dicken Mauein wie die
zurücktretenden Nischenränder. Es entsteht
also eine sehr energische Gliederung der gelb-
grauen Wandfläche mit ihren geradlinigen
Einfassungen in Hell und Dunkel, und die
ganze Reihe dieser wiederkehrenden Fenster-
gruppen bringt eine wirksame Rhythmik hervor.
Die niedrigen Proportionen der Mauer und
die durchgehenden Linien, des Sockels unten
wie des Kranzgesimses oben, lassen jedoch
die Horizontale so stark überwiegen, daß wir
die Breitenlagerung der Masse trotz aller
Strophenteilung in ihrem ruhigen Gleichgewicht
empfinden; die Reihung der Kompartimente
dient nur dazu, den Abstand zwischen dem
Himmelsboten und der Gottesmagd erst recht
zu ermessen.

So liegt in dieser einfachen Architekturform
wieder ein vollgültiges Bekenntnis des Malers
zu der Richtung des Masaccio und damit des
großen Neuerers Filippo di Ser Brunellesco,
der durch Nachahmung antik römischer Bau-
reste die herkömmlichen Stilformen der Gotik
 
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