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Zeitschrift für christliche Kunst — 33.1920

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Günther, D.: Die vier allegorischen Figuren am Südportal des Wormser Doms
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https://doi.org/10.11588/diglit.4307#0022

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Nr. 1/2 ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST. 13

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falls eine Tugend abbildet, aber doch eine Beobachtung ist, die zusammen mit den
andern dafür sprechenden Momenten abgewogen werden muß. Der Straßburger
Zyklus mußte in Worms bekannt sein, er kann auch dazu beigetragen haben, daß
man sich in Worms zur Ergänzung der Portalplastik für einen Ausschnitt aus dem
Tugend- und Lasterkatalog entschied, wenn auch der Nachhall der Psychomachie
des Prudentius, der die Straßburger Gruppe noch umgibt, bei den Wormser Ab-
sichten völlig verklingen mußte. Das Attribut des Buches könnte allerdings auch
auf die Prudentia weisen, aber dann müßte man annehmen, daß der Pfeil durch
Verwechslung mit dem Schlangenstab oder Nagel entstanden wäre. Aber schon
der bevorzugte Standort spricht mehr als für eine Kardinaltugend für eine theo-
logische Tugend; auch inhaltlich würde der Zusammenhang der vier Statuen
durch diese Annahme sehr gelockert. Es wird dabei bleiben müssen, daß neben
Caritas Fides steht.

Dies hat sich also als die Lösung des Rätsels ergeben, daß in Worms eines der
geläufigen Themen der Portalplastik, die Tugenden und Laster, im
Ausschnitt verkörpert worden ist: die beiden theologischen Tugenden Fides und
Caritas und die Laster der Idololatria und Luxuria. Nur Fides und Idololatria
entsprechen sich ideell genau; Caritas hat sonst als GegensatzAvantia, doch kann
die selbstsüchtige Weltlust ja auch in einen gewissen ethischen Gegensatz zur
Caritas gebracht werden. Für die Luxuria hätte man unmöglich das Vorbild von
Chartres benützen können, auch wenn man es gekannt hat: dort umarmen sich
ein vornehmer Jüngling und eine gekrönte Frau. Aber dafür hatte man auch in
Worms etwas Besonderes in Aussicht genommen, ein modernes Werk, wie es der
Zeitdichtung entsprang. Die Aufstellung der vier Figuren hätte naturgemäß die
folgende sein müssen:

obere Reihe: Caritas Fides

untere Reihe: Luxuria Idololatria

Allein für eine Umstellung sprachen zweierlei Gründe. Zunächst wünschte man
das moderne Werk von derjenigen Seite recht sichtbar zu machen, von der es am
überzeugendsten erschien. Dann aber mochte man sich in Worms, das in seinen
Mauern eine zahlreiche Judengemeinde mit romanischer Synagoge beherbergte,
die Genugtuung nicht versagen, die Gestalt der Synagoge, deren idololatrisches
Treiben durch das eben vollzogene Opfer noch besonders hervorgehoben ist, so
aufzustellen, daß sie den Triumphzug der in der Höhe gegen sie anreitenden
Ecclesia mitansehen mußte. Wollte man aber in dieser disparaten Anordnung nur
eine Lockerung des systematischen Triebes erblicken, wie sie bei den Statuen an
der gegenüberliegenden Außenwand der Nikolauskapelle tatsächlich eingetreten
ist, so widerspricht dem eine letzte Wahrnehmung. In dem Ludus paschalis de
adventu et interitu Antichristi, der in Tegernsee im XII. Jahrh. entstanden ist46,
betritt Ecclesia die Bühne inmitten der Misericordia, die, durch ein Salbengefäß
charakterisiert, außerhalb des Zyklus offenbar die werktätige Caritas vertritt, und
der Justitia mit Schwert und Wage. Darnach wurde die Ecclesia nicht nur zu
biblischen und kirchengeschichtlichen Personen, sondern auch zu Tugendalle-

46 Koberstein, Gesch. der deutschen Nationalliteratur, 5. Aufl., I, S. 361. Weber
a.a.O. S. 71.


 
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