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Zeitschrift für christliche Kunst — 33.1920

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Witte, Fritz: Mystik und Kreuzesbild um 1300
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https://doi.org/10.11588/diglit.4307#0130

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Nr. 9/10 ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST. \\j[

MYSTIK UND KREUZESBILD UM 1300.

(Mit Tafel IV und 3 Abbildungen.)

Das Thema der Kreuzigung ist der mittelalterlichen Kunst unerschöpf-
lich gewesen; immer neue Auffassungen vom Gekreuzigten treten
uns entgegen. Besonders um die Wende des XIII. Jahrh. tritt das
Kruzifixbild in den Mittelpunkt des kontemplativen Lebens, wie auch in-
folgedessen der auf kontemplativer Grundlage schaffenden Kunst. Visionär
erfaßt war das Kreuzbild der romanischen Epoche, abgekehrt von aller Wirk-
lichkeit, allen Realismus' bar. Es war das Ergebnis einer gottgrüßenden Kunst
allein. Seitdem der „poverello von Assisi" aber die ethischen Forderungen
an den Menschen denen einer gottsuchenden Philosophie vorangesetzt hatte,
seitdem durch Not und Tod der Sinn der Menschheit auf Gott hingewiesen
worden war als den leidenden Erlöser, der nicht einzig nur die Bewunde-
rung und den Dank der Erlösten verlangte, als vielmehr die Compassio, das
Mitdurchkosten des Leidens, das Nachtragen des Kreuzes, seitdem tritt auch
die Kunst an das grandiose Thema des Gekreuzigten mit anderen Absichten
und Zielen heran. Die Steigerung ist klar zu verfolgen, weit über das erste
Viertel des XIV. Jahrh. hinaus. Je höher die gotischen Dome ihre Glieder
emporreckten ms Endlose des Äthers, desto höher recken sich die Kreuze,
desto höher auch die wie zum Schrei um Erbarmen emporgestreckten Arme
Christi am Kreuze. Just zu der Zeit, als in Köln die Mystiker den Höhe-
punkt ihres Wirkens und ihres Einflusses feststellen konnten, entstanden
aus der hinreißenden, alles reale Leben erstickenden Selbstkreuzigung des
frommen Menschen Kruzifixbilder, die in einer ungeheuren, erschütternden
Tragik zu uns reden, in einem Realismus aufs höchste gesteigerter Aus-
druckskunst, der fast erschreckt. Es kann kein Zufall sein, daß gerade die
damals entstandenen Kruzifixbilder, denen sich kurze Zeit später mehrere
Vesperbilder anschließen, vom Volke gewissermaßen auf die Altäre erhoben,
zu Gnadenbildern gestempelt wurden. Und wahrhaftig: da mag die Jahr-
hunderte hindurch manche Seele, die ihren Gott oder ihre Hoffnung ver-
loren hatte, die vor diesen Bildern stand und kniete, in den Abgrund von
Leid einmal tief hineingeschaut und dort in diesem Brunnen des Leidens
das Spiegelbild ihres Gottes erschaut haben, eines über alle Maßen er-
barmenden und liebenden Gottes, der seine zerschundenen Arme ausbreitete,
um alle an das wunde Erlöserherz zu drücken. Diese Kreuze bergen in
sich Revolutionen, Entsetzlichkeiten und Himmelreiche zugleich.

Wir gerade heute, wir meinen den Geist wieder zu verstehen, der aus
solchen Werken der Kunst zu uns redet, wir, die wir auch längst erkennen,
daß letzten Endes trotz allem unser Sehnen dahingeht, daß von oben her
eine Gnade uns überschatte, die außerhalb unseres eigenen Tuns und
Könnens liegt, oder, wie Goethe an Eckermann schreibt, daß dem Bemühen
von unten das Erlösen von oben begegnen muß. Wir meinen zu ahnen,
daß auch die Menschen unserer Tage wieder einmal so rücksichtslos an-
gefaßt werden müssen. So verlieren die Kruzifixe des beginnenden XIV. Jahrh.
das Schreckhafte für uns, soweit es vielleicht an das Abstoßende grenzt,
 
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