HEFT 8
ANNE LIEBREICH: DER KRÜSELER IM 15. JAHRHUNDERT.
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DER KRÜSELER IM 15. JAHRHUNDERT
VON AENNE LIEBREICH
In diesem Band hat bereits Ottilie Rady grund-
legend über die Beschaffenheit des Krüselers, dieses
interessanten, aber bisher von der Kostümliteratur
kaum beachteten Frauenkopfputzes des späten Mittel-
alters gehandelt (S. 131 ff.). Sie kam zu dem Ergeb-
nis, daß die Blütezeit des Krüselers das letzte Drittel
des 14. Jahrhunderts sei.
Folgende Ausführungen sollen darlegen, inwieweit
der Krüseler auch noch als Kleidungsstück des 15.
Jahrhunderts anzusprechen ist, und welche Umwand-
lungen er in seiner Spätzeit erfährt.
Vorerst aber einige Worte über seine mutmaßliche
Herkunft. Das früheste datierte Beispiel weist
Roehl1) auf einem schlesischen Fürstinnensiegel 1342
nach. Ungefähr derselben Zeit dürften die Minia-
turen der Welislaw-Bibel2) in der Bibliothek desFür-
sten Lobkowitz in Prag angehören, in der der Krü-
seler in verschiedener Form vorkommt3). Das frü-
heste datierte westdeutsche Beispiel entstammt erst
dem Jahre 1356. In England ist er sehr beliebt ge-
wesen, nachweisbare Beispiele finden sich aber dort
erst seit 1370 4).
In Frankreich scheint er bis auf ein später zu cha-
rakterisierendes, höchst seltsames Monument unbe-
kannt geblieben zu sein.
Diese Gesichtspunkte dürften genügen, seinen Ur-
sprung im östlichen Deutschland bzw. Böhmen wahr-
scheinlich zu machen: war doch Prag anscheinend von
der Mitte des 14. Jahrhunderts an auf lange Zeit
eines der modeschöpferischen Zentren Europas5 6).
Den Namen „kruseler“ überliefert uns erstmalig die
B E. Roehl: „Die Trachten der schlesischen Fürstinnen
des 13. und 14. Jahrhunderts auf Grund ihrer Siegel“. Bei-
lage zum Jahresbericht derViktoriaschule zu Breslau, Ostern
1895.
2) Publ. von E. Wocel in den Abhandlungen der Kgl.
Böhm. Ges. der Wissenschaften 1870, VI. Folge, 4.Bd., Prag
1871.
3) Abgebildet bei A. Schultz: Deutsches Leben im 14.
und 15. Jahrhundert, Wien, Leipzig 1892, II. Halbbd. Fig.
279, 281.
4) Damit wird die von Roehl und Rady vertretene An-
nahme, der Kruseler sei eine ausgesprochen deutsche Mode,
hinfällig.
6) Vgl. das Braunschweiger Skizzenbuch eines m. a.
Malers herausgeg. von Joseph Neuwirth, Prag 1897.
6) Zit. nach A. Schultz a. a. O. 1. Halbbd. S. 294: „Zu
dem ersten über die frouwen: der sol deheyne kein schap-
pel dragen oder deheynen sleyger, genannt Kruseler, dra-
Speyerer Trachtenordnung0) von 1356, und aus dem-
selben Jahr stammt das früheste innerdeutsche Bild-
beispiel, die Darstellung der Maria beim Bade des
Kindes auf dem Tympanon des westlichen Nordpor-
tals am Ulmer Münster7).
Die Ulmer Darstellung bietet uns ein Beispiel der
einfachsten Kruselerform, nämlich des Halbkreises,
dessen Durchmesser — also die das Gesicht umge-
bende gerade Seite — mit der Krausenkante versehen
ist8), und gestützt auf diese Darstellung möchte ich
im Gegensatz zu Ottilie Radg in dieser einfachsten
zugleich die früheste Form erblicken, die sich aller-
dings lange neben der Kragenkrusel9) hält und nach
Rady10) noch 1377 auf einem, wie sie sagt, wenig
qualitätvollen (und dementsprechend wohl auch rück-
ständigem) Grabstein erscheint.
Diese beiden Arten des Krüselers gehen auch auf
englischen Grabsteinen nebeneinander her. Cross-
ley11) bildet z. B. das Grabmal des Sir Godfrey Fol-
jambe, gest. 1377 (in Bakewell Derbyshire) ab, des-
sen Gattin die offene, kragenlose Krusel trägt, wäh-
rend die Gattin des Sir Tomas Beauchamp gest. 1370
(Warwick St. Marg) mit dem Kragenkruseler ge-
schmückt ist.
Die dritte mit dem Halstuch (Rise) geschlossene
Form12) kommt in England nicht vor.
Diese dritte, verhüllende Form, die nach Rady von
1387 an nachweisbar ist, bildet die Übergangsform
zum 15. Jahrhundert, in dessen ersten zwei Jahrzehnten
sie mit geringen Veränderungen in Deutschland eine
weit verbreitete und sehr beliebte Kopfbedeckung ist.
Beide Gattinnen des 1407 verstorbenen/Grafen Johann
von Wertheim auf ihrem gemeinsamen Grabmal in der
Kirche zu Wertheim tragen sie und ebenso unverän-
gen, der me habe umbe gewunden, danne vier vach, also
daz dieselben vach alle, an den flocken daran, von der Stir-
nen über sich uf nit hoeher sint oder sin soellent danne
eines twerch fingers hoch“.
’) Abgebildet bei J. Baum: gotische Plastik Schwabens
Augsburg 1921 Tf. 14.
8) Vgl. Rady Fig. 7, 2. Form.
°) Vgl. Rady Fig. 5, 1. Form.
10) Fig. 8.
u) Fred H. Crossley: English church monuments A. D.
1150—1550 London 1921, S. 179 und S. 16.
12) Vgl. Rady Fig. 10, 3. Form.
1S) Grabmal in der Katharinenkirche in Oppenheim, ab-
gebildet bei Börger; Grabdenkmäler im Maingebiet Leipzig
1907 Tf. 12.
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DER KRÜSELER IM 15. JAHRHUNDERT
VON AENNE LIEBREICH
In diesem Band hat bereits Ottilie Rady grund-
legend über die Beschaffenheit des Krüselers, dieses
interessanten, aber bisher von der Kostümliteratur
kaum beachteten Frauenkopfputzes des späten Mittel-
alters gehandelt (S. 131 ff.). Sie kam zu dem Ergeb-
nis, daß die Blütezeit des Krüselers das letzte Drittel
des 14. Jahrhunderts sei.
Folgende Ausführungen sollen darlegen, inwieweit
der Krüseler auch noch als Kleidungsstück des 15.
Jahrhunderts anzusprechen ist, und welche Umwand-
lungen er in seiner Spätzeit erfährt.
Vorerst aber einige Worte über seine mutmaßliche
Herkunft. Das früheste datierte Beispiel weist
Roehl1) auf einem schlesischen Fürstinnensiegel 1342
nach. Ungefähr derselben Zeit dürften die Minia-
turen der Welislaw-Bibel2) in der Bibliothek desFür-
sten Lobkowitz in Prag angehören, in der der Krü-
seler in verschiedener Form vorkommt3). Das frü-
heste datierte westdeutsche Beispiel entstammt erst
dem Jahre 1356. In England ist er sehr beliebt ge-
wesen, nachweisbare Beispiele finden sich aber dort
erst seit 1370 4).
In Frankreich scheint er bis auf ein später zu cha-
rakterisierendes, höchst seltsames Monument unbe-
kannt geblieben zu sein.
Diese Gesichtspunkte dürften genügen, seinen Ur-
sprung im östlichen Deutschland bzw. Böhmen wahr-
scheinlich zu machen: war doch Prag anscheinend von
der Mitte des 14. Jahrhunderts an auf lange Zeit
eines der modeschöpferischen Zentren Europas5 6).
Den Namen „kruseler“ überliefert uns erstmalig die
B E. Roehl: „Die Trachten der schlesischen Fürstinnen
des 13. und 14. Jahrhunderts auf Grund ihrer Siegel“. Bei-
lage zum Jahresbericht derViktoriaschule zu Breslau, Ostern
1895.
2) Publ. von E. Wocel in den Abhandlungen der Kgl.
Böhm. Ges. der Wissenschaften 1870, VI. Folge, 4.Bd., Prag
1871.
3) Abgebildet bei A. Schultz: Deutsches Leben im 14.
und 15. Jahrhundert, Wien, Leipzig 1892, II. Halbbd. Fig.
279, 281.
4) Damit wird die von Roehl und Rady vertretene An-
nahme, der Kruseler sei eine ausgesprochen deutsche Mode,
hinfällig.
6) Vgl. das Braunschweiger Skizzenbuch eines m. a.
Malers herausgeg. von Joseph Neuwirth, Prag 1897.
6) Zit. nach A. Schultz a. a. O. 1. Halbbd. S. 294: „Zu
dem ersten über die frouwen: der sol deheyne kein schap-
pel dragen oder deheynen sleyger, genannt Kruseler, dra-
Speyerer Trachtenordnung0) von 1356, und aus dem-
selben Jahr stammt das früheste innerdeutsche Bild-
beispiel, die Darstellung der Maria beim Bade des
Kindes auf dem Tympanon des westlichen Nordpor-
tals am Ulmer Münster7).
Die Ulmer Darstellung bietet uns ein Beispiel der
einfachsten Kruselerform, nämlich des Halbkreises,
dessen Durchmesser — also die das Gesicht umge-
bende gerade Seite — mit der Krausenkante versehen
ist8), und gestützt auf diese Darstellung möchte ich
im Gegensatz zu Ottilie Radg in dieser einfachsten
zugleich die früheste Form erblicken, die sich aller-
dings lange neben der Kragenkrusel9) hält und nach
Rady10) noch 1377 auf einem, wie sie sagt, wenig
qualitätvollen (und dementsprechend wohl auch rück-
ständigem) Grabstein erscheint.
Diese beiden Arten des Krüselers gehen auch auf
englischen Grabsteinen nebeneinander her. Cross-
ley11) bildet z. B. das Grabmal des Sir Godfrey Fol-
jambe, gest. 1377 (in Bakewell Derbyshire) ab, des-
sen Gattin die offene, kragenlose Krusel trägt, wäh-
rend die Gattin des Sir Tomas Beauchamp gest. 1370
(Warwick St. Marg) mit dem Kragenkruseler ge-
schmückt ist.
Die dritte mit dem Halstuch (Rise) geschlossene
Form12) kommt in England nicht vor.
Diese dritte, verhüllende Form, die nach Rady von
1387 an nachweisbar ist, bildet die Übergangsform
zum 15. Jahrhundert, in dessen ersten zwei Jahrzehnten
sie mit geringen Veränderungen in Deutschland eine
weit verbreitete und sehr beliebte Kopfbedeckung ist.
Beide Gattinnen des 1407 verstorbenen/Grafen Johann
von Wertheim auf ihrem gemeinsamen Grabmal in der
Kirche zu Wertheim tragen sie und ebenso unverän-
gen, der me habe umbe gewunden, danne vier vach, also
daz dieselben vach alle, an den flocken daran, von der Stir-
nen über sich uf nit hoeher sint oder sin soellent danne
eines twerch fingers hoch“.
’) Abgebildet bei J. Baum: gotische Plastik Schwabens
Augsburg 1921 Tf. 14.
8) Vgl. Rady Fig. 7, 2. Form.
°) Vgl. Rady Fig. 5, 1. Form.
10) Fig. 8.
u) Fred H. Crossley: English church monuments A. D.
1150—1550 London 1921, S. 179 und S. 16.
12) Vgl. Rady Fig. 10, 3. Form.
1S) Grabmal in der Katharinenkirche in Oppenheim, ab-
gebildet bei Börger; Grabdenkmäler im Maingebiet Leipzig
1907 Tf. 12.
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