HEFT 2/3 BERNHARD RATHGEN: DAS DREHKRAFTGESCHÜTZ IM STREITE DER MEINUNGEN
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Schaube die ganze Brust, außerdem gehören ihm nach
Stoff und Farbe auch die Ärmel an, doch die be-
sprochene Funktion des Wamses als „Hosenträger“
zwingt zu der Annahme, daß auch hierunter noch
ein Wams liegt.
Worauf es uns nun aber vor allem ankommt, ist,
festzustellen, daß die Schaube auch über zwei Un-
tergewändern getragen, nicht zu einem Mantel wird,
den man im Hause ablegt, sondern daß sie ihrer
Herkunft treu ein Obergewand bleibt. Jenes zwi-
schengeschobene Schoßgewand hat augenscheinlich
nicht, namentlich ohne Ärmel, wie bei Heinrich VIII.
den Charakter eines vollwertigen, selbständigen
Obergewandes. Außerdem zeugen für unsere Auf-
fassung vom Charakter der Schaube zahllose Bild-
nisse, auf denen die Dargestellten sich in ihrem
Heim oder gar wie etwa Holbeins Kaufmann Gisze
im Berliner K. Fr.-Museum am Schreibtisch bei
der Arbeit in dem beschriebenen Kostüm zeigen.
Wir haben es eben offenbar wie ehedem mit einem
Repräsentationsgewand, dem „Staatsrock“ zu tun,
der mit den beiden Untergewändern zusammen eine
in Stoff, Farbe und Dekor zusammenstimmende und
zusammengehörige Garnitur, modern ausgedrückt
einen „Anzug“ bildet.
Aus Raummangel beschränken wir uns hier auf das
Kernproblem der Schaube, so fruchtbar und lohnend
es zweifellos wäre, ihren formalen Wandlungen im
Zusammenhang mit dem „Schaubenanzug“ einmal
nachzugehen3 4), und kehren zum Schluß nochmals
zum Ausgangspunkt zurück. Die geschilderte
Herleitung der Schaube vom Mantelrock wird,
wie so viele Kostümfragen, durch den Wechsel
der Bezeichnungen, die sich oft an äußerliche
Abänderungen knüpfen, verunklärt. In unserem
Fall gilt dies indessen nicht allgemein, vielmehr
erhalten wir gerade von dieser Seite eine unerwartete
Bestätigung. Denn die holländische Benennung
der Schaube ist Tabard1), fast gleichlautend mit
unserem Tappert, wie wir sahen, der deutschen Be-
nennung des Mantelrocks, von dem wir die Schaube
herzuleiten versuchten.
3) Auch die Verwendung der Schaube in der weiblichen
Tracht, die sie bekanntermaßen im 16. Jahrhundert an-
nimmt, ist einer besonderen Behandlung wert (vgl. Z. H.
W. K., B. 9, S. 209, Heinrich Doege. Das von Quetzische
Hochzeitsbüchlein, insbesondere Abb. 1, S. 209).
4) C. H. De Jonje, Bijdrage tot de Kennis van de
Nord-Nederlandsche Costum-Geschiedenis in de eerste
Helft van de XVI. Eenw. Del I Het Maanescostume S. 58f.
DAS DREHKRAFTGESCHÜTZ IM STREITE DER MEINUNGEN
VON BERNHARD RATHGEN
Die Wirkung der frühesten Fernwaffen -Schleu-
der, Speer, Bogen - war begrenzt durch die Arm-
kraft des Schützen. Das Bestreben, diese Wirkung
zu erhöhen, führte, wie Dionys der Ältere dieser-
halb in seinen schweren Kämpfen mit Karthago die
Weisen und die Werkverständigen Groß-Griechen-
lands im Jahre 400 v. Chr. nach Syracus zusammen-
gerufen hatte, zur Erfindung des Geschützes. Hat
sich in späteren Zeiten aus dem Bogen die Arm-
brust entwickelt, als Handwaffe zunächst, dann als
standfeste Großwaffe, und ist aus der Schleuder in
ihrer vorgeschritteneren Form als Stabschleuder das
mächtige Hebelgeschütz entstanden, so haben die
griechischen Erfinder auf eine Ausbildung der vor-
handenen Waffen verzichtet und haben als etwas
ganz Neues zu der Triebkraft für die Ferngeschosse
die Spannungselastizität der Sehnen verwendet.
Die Sehnen, die über zwei in einem gewissen Ab-
stand befindlichen Achsen in mehrfachen La-
gen übereinander fest aufgezogen waren, wurden
durch je einen beiderseits in den engen Zwischen-
raum zwischen den so entstandenen Sehnenbündeln
eingepreßten starren Arm in sich zusammengedreht.
Hierdurch wurden die einzelnen der das Bündel
bildenden Sehnen in ihren Fasern verlängert und
hatten dann infolge der hierdurch entstandenen
Spannung das Bestreben, auf ihre ursprüngliche
Länge zurückzukommen. Durch das Drehen des
starren Spannarmes „wurde das Nervenbündel in
Drehung, aber jeder der einzelnen Nerven im Bün-
del in Spannung auf Zug gesetzt“.
Für den Flachschuß waren zwei Nervenbündel
in einem festen Rahmen senkrecht gestellt.
Ihre beiden Spannarme waren durch eine
Schießsehne miteinander verbunden. Durch deren
Zurückziehen wurden mit den Spannarmen die Seh-
nenbündel in dem Rahmen gedreht, die einzelnen
Sehnen in dem Bündel gereckt; ihr Rückdreh-
bestreben bildete dann die Kraft, mit der
beim Auslösen der Spannung — dem Abdrücken
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Schaube die ganze Brust, außerdem gehören ihm nach
Stoff und Farbe auch die Ärmel an, doch die be-
sprochene Funktion des Wamses als „Hosenträger“
zwingt zu der Annahme, daß auch hierunter noch
ein Wams liegt.
Worauf es uns nun aber vor allem ankommt, ist,
festzustellen, daß die Schaube auch über zwei Un-
tergewändern getragen, nicht zu einem Mantel wird,
den man im Hause ablegt, sondern daß sie ihrer
Herkunft treu ein Obergewand bleibt. Jenes zwi-
schengeschobene Schoßgewand hat augenscheinlich
nicht, namentlich ohne Ärmel, wie bei Heinrich VIII.
den Charakter eines vollwertigen, selbständigen
Obergewandes. Außerdem zeugen für unsere Auf-
fassung vom Charakter der Schaube zahllose Bild-
nisse, auf denen die Dargestellten sich in ihrem
Heim oder gar wie etwa Holbeins Kaufmann Gisze
im Berliner K. Fr.-Museum am Schreibtisch bei
der Arbeit in dem beschriebenen Kostüm zeigen.
Wir haben es eben offenbar wie ehedem mit einem
Repräsentationsgewand, dem „Staatsrock“ zu tun,
der mit den beiden Untergewändern zusammen eine
in Stoff, Farbe und Dekor zusammenstimmende und
zusammengehörige Garnitur, modern ausgedrückt
einen „Anzug“ bildet.
Aus Raummangel beschränken wir uns hier auf das
Kernproblem der Schaube, so fruchtbar und lohnend
es zweifellos wäre, ihren formalen Wandlungen im
Zusammenhang mit dem „Schaubenanzug“ einmal
nachzugehen3 4), und kehren zum Schluß nochmals
zum Ausgangspunkt zurück. Die geschilderte
Herleitung der Schaube vom Mantelrock wird,
wie so viele Kostümfragen, durch den Wechsel
der Bezeichnungen, die sich oft an äußerliche
Abänderungen knüpfen, verunklärt. In unserem
Fall gilt dies indessen nicht allgemein, vielmehr
erhalten wir gerade von dieser Seite eine unerwartete
Bestätigung. Denn die holländische Benennung
der Schaube ist Tabard1), fast gleichlautend mit
unserem Tappert, wie wir sahen, der deutschen Be-
nennung des Mantelrocks, von dem wir die Schaube
herzuleiten versuchten.
3) Auch die Verwendung der Schaube in der weiblichen
Tracht, die sie bekanntermaßen im 16. Jahrhundert an-
nimmt, ist einer besonderen Behandlung wert (vgl. Z. H.
W. K., B. 9, S. 209, Heinrich Doege. Das von Quetzische
Hochzeitsbüchlein, insbesondere Abb. 1, S. 209).
4) C. H. De Jonje, Bijdrage tot de Kennis van de
Nord-Nederlandsche Costum-Geschiedenis in de eerste
Helft van de XVI. Eenw. Del I Het Maanescostume S. 58f.
DAS DREHKRAFTGESCHÜTZ IM STREITE DER MEINUNGEN
VON BERNHARD RATHGEN
Die Wirkung der frühesten Fernwaffen -Schleu-
der, Speer, Bogen - war begrenzt durch die Arm-
kraft des Schützen. Das Bestreben, diese Wirkung
zu erhöhen, führte, wie Dionys der Ältere dieser-
halb in seinen schweren Kämpfen mit Karthago die
Weisen und die Werkverständigen Groß-Griechen-
lands im Jahre 400 v. Chr. nach Syracus zusammen-
gerufen hatte, zur Erfindung des Geschützes. Hat
sich in späteren Zeiten aus dem Bogen die Arm-
brust entwickelt, als Handwaffe zunächst, dann als
standfeste Großwaffe, und ist aus der Schleuder in
ihrer vorgeschritteneren Form als Stabschleuder das
mächtige Hebelgeschütz entstanden, so haben die
griechischen Erfinder auf eine Ausbildung der vor-
handenen Waffen verzichtet und haben als etwas
ganz Neues zu der Triebkraft für die Ferngeschosse
die Spannungselastizität der Sehnen verwendet.
Die Sehnen, die über zwei in einem gewissen Ab-
stand befindlichen Achsen in mehrfachen La-
gen übereinander fest aufgezogen waren, wurden
durch je einen beiderseits in den engen Zwischen-
raum zwischen den so entstandenen Sehnenbündeln
eingepreßten starren Arm in sich zusammengedreht.
Hierdurch wurden die einzelnen der das Bündel
bildenden Sehnen in ihren Fasern verlängert und
hatten dann infolge der hierdurch entstandenen
Spannung das Bestreben, auf ihre ursprüngliche
Länge zurückzukommen. Durch das Drehen des
starren Spannarmes „wurde das Nervenbündel in
Drehung, aber jeder der einzelnen Nerven im Bün-
del in Spannung auf Zug gesetzt“.
Für den Flachschuß waren zwei Nervenbündel
in einem festen Rahmen senkrecht gestellt.
Ihre beiden Spannarme waren durch eine
Schießsehne miteinander verbunden. Durch deren
Zurückziehen wurden mit den Spannarmen die Seh-
nenbündel in dem Rahmen gedreht, die einzelnen
Sehnen in dem Bündel gereckt; ihr Rückdreh-
bestreben bildete dann die Kraft, mit der
beim Auslösen der Spannung — dem Abdrücken