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Antiquitäten-Zeitung — 5.1897

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Nr. 25 (16. Juni)
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https://doi.org/10.11588/diglit.61937#0197
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Zentral-OraanfürSammelwesen,
Auflage 5000.^ B-rftci^?«gcn und AUcrthumskunde.

Verbürgte
Auflage 5000.

Herausgegeben unter Mitwirkung bewährter Fachleute von Udo Beckert in Stuttgart, Böblingerstr. 2, Verlagsbuchhandlung und Buchdruckerei,
gegründet 1881, prämiirt mit goldenen Medaillen in Stuttgart, München, Berlin, Paris, Gent und London.

Nr. 25.

Abonnement:
Deutschland u. Oesterreich 2.50
vierteljährlich, Ausland 3.—

Stuttgart, 1«. Juni 1887.
(Erscheint wöchentlich.)

Anzeige»:
Die Nonpareillezeile oder deren
Raum L0 Pfg., Auktionen so Pfg.

5. Jahrgang.


Der Wittwentheil.
Novelle von
Justin M'Carthy.
Aebertragung aus dem Englischen von Richard Frank.
(Nachdruck verboten.)

Der „angenehme Wittwenstand" bildet eine Redens-
art, die auf Molisre zurückzuführen und auch wesentlich
französisch in der Empfindung ist; der Stand bedingt
die Ehre, Würde und Freiheit einer verheiratheten Frau
ohne die Verantwortlichkeit und die Lasten derselben.
Man ist frei von Sorgen und Verdruß wie ein Mäd-
chen, in gesellschaftlicher Beziehung von jedem Zwange
frei wie eine Frau. Man müßte Franzose sein, um die
Empfindung ganz würdigen zu können. Der Wiltwen-
stand setzt bei Amerikanern, Engländern, Juden und
anderen die Familie liebenden Rassen eine so traurige
Lebenslage voraus, daß man Mühe hat, den Sinn der
französischen Redensart zu erfassen, ebenso wie es ohne
einige vorangegangene Denkarbeit und ohne Studium
schwer ist, den heidnischen Gedanken von Goethe's
„Braut von Korinth" oder Swinburne's „Hymne an
Proserpina" zu verstehen. Doch ich habe diese Geschichte
mit dem Berichte über einen Wittwenstand zu eröffnen,
den ich bitte, wo möglich im Lichte Moliöre's zu be-
trachten. Denn wenn ein Wittwenstand überhaupt je-
mals angenehm und glücklich war, so war es der von
Rachel Lindsay, der zurückgebliebenen Frau des ver-
ewigten Alexander Lindsay, welcher zur Zeit unter der
Last schweren Marmors den Schlaf der Gerechten
schläft.
Armer Sandy Lindsay! Als kleiner Junge kam
er vor sechzig Jahren aus Aberdeen in Schottland nach
Newyork, unter dem Schutz seines Vaters, der jedoch
kurz nach der Landung starb. Er war auf seine eigene
Kraft angewiesen und machte seinen Weg. Er begann
mit kleinem Handel, sparte Geld, spekulirte kühn, wurde
Schiffseigenthümer und schließlich ein reicher Mann.
Darüber war er aber alt geworden, und er zählte schon
mehr als sechzig Jahre, als er das erste und letzte und
einzige Mal den Schmerz der Liebe empfand. Bis zu
der Zeit, da er die hübsche, graziöse, dunkeläugige
Rachel King sah, hatte Sandy nie einen besonderen
Unterschied zwischen Menschen in Beinkleidern und Men-
schen in Frauenröcken gemacht, davon abgesehen, daß
sich die Ersteren mehr mit Geschäften befaßten, für ihn
also viel wichtiger und interessanter waren. Als er
jedoch Rachel King kennen lernte, begann er zum ersten
Male Verständniß für die Gefühle der Männer gegen-
über den Frauen zu gewinnen. Rachel King war so

arm, als sie hübsch war. Sandy begegnete ihr zufällig
in dem Hause eines Bekannten und verliebte sich in sie.
Er hatte, so lange er lebte, nie irgend einem Luxus ge-
stöhnt. Nun, nach einem halben Jahrhundert harter
Arbeit, dachte er sich eine Frau gönnen zu dürfen.
Einige seiner Freunde widersetzten sich der Absicht und
zogen sie in's Lächerliche, dies aber festete seinen Ent-
schluß. Stets hatte er das Richtige gethan, ohne auf
fremden Rath zu hören; er wollte auch jetzt nach dem-
selben Grundsatz handeln. Rachel war eine Waise und
lebte bei Oheim und Tante, anständigen, aber armen
Leuten. Sie war noch nicht zwanzig Jahre alt und
schon der beschränkten dürftigen Lebensweise müde; es
bedurfte nicht großer Anstrengung, sie zur Heirath zu
überreden. Ihr Herz hatte übrigens bisher ebensowenig
von Liebe empfunden, wie das Sandy's; freilich stand
es erst an der Schwelle des Lebens und das seine ging
zur Neige. Das war der große Unterschied — er begann


Kragen zu einem Trabharnischs des Feldobersten Heinrich von
Rantzau (löse—MW), gebläut und mit geschwärzten Strichen geziert.
Der Kragen steht in Verbindung mit Spangröls, an welchen Schwebe-
scheiben hängen (die linksseitige ist hier weggelassen worden).
Deutsch, um 1S70.

jetzt zu empfinden, was Liebe war, sie aber wußte noch
nichts davon.
Sie war ein gut veranlagtes Mädchen; aber ein
Haus in der Fünften Avenue, eine Villa am Hudson,
Equipagen und so viel Geld, als sie sich nur wünschen
konnte, bilden starke Verführungen für ein junges Ge-
schöpf. So heirathete sie Alexander Lindsay. Und die
Ehe war keine unglückliche. Einen heiklen Punkt in der-
selben bildete vielleicht, daß sie glücklicher war, als er.
Denn mit der Liebe war die Eifersucht über ihn ge-
kommen — nicht im Sinne eines Othello, aber die Eifer-
sucht eines alten Mannes, der es nicht ertragen konnte,
wenn er sehen mußte, daß seine Frau an dem Verkehr
mit anderen Leuten, Männern oder Frauen, Interesse
fand. Armer Sandy! Er hatte gearbeitet, sich gemüht
und gesorgt sein Leben lang, war früh aufgestanden und
hatte sich spät zu Bette gelegt, ein Stück Brod war sein

Frühstück, ein Schluck Thee sein Mittagsmahl gewesen;
niemals hatte er ein anderes Vergnügen gehabt, als
jenes, welches der glückliche Gelderwerb verursacht; nun,
im Spätherbst des Lebens, fand er, daß ihm dasselbe
eine Wonne geben konnte: er streckte die Hand danach
aus, und es erwies sich, daß dieses Glück mehr der
Pein enthielt, als alles Andere. Niemals ließ er Rachel
dies ahnen. Sie war ein ausgezeichnetes, ein seltenes
Weib. Und er erwartete von ihr nicht, daß sie eine
närrische Liebe für ihn empfinde; so verrieth er nichts
von seiner Qual und seiner Enttäuschung. Das war
erhaben. Aber Sandy's Leben war keine Schule der
erhabenen Handlungsweise gewesen, und so beging er
schließlich etwas Kleinliches und Schlechtes, wovon wir
sofort hören werden. Ihm erschien es allerdings nicht
kleinlich und schlecht, sondern durchaus billig, vernünftig
und schön.
Zwei, drei Jahre vergingen und Alexander Lind-
say starb. Er hinterließ ein großes Vermögen und eine
Wittwe von zweiundzwanzig Jahren. Und er hatte be-
stimmt, daß alles, was er hinterließ, ohne jede Ein-
schränkung und Anfechtung ihr gehören sollte — so lange,
als sie Wittwe blieb. Das war das eine Schlechte, was
er beging, und dies, wir haben es schon gesagt, war
ihm nicht schlecht erschienen. Er hielt es für schön und
billig, seine Wittwe zu bereichern, aber er sah es nicht
als gerecht an, daß sein Vermögen dazu dienen sollte,
die Frau eines andern Mannes und diesen andern Mann
dazu zu bereichern.
Rachel fand an der Bedingung, die ihr auferlegt
worden war, nichts Drückendes. Sie war über den Tod
ihres Gatten aufrichtig betrübt, und es kam ihr nicht
im Entferntesten der Gedanke, einen anderen Mann zu
heirathen. Sie fühlte sich durch Liebe zu Niemandem
hingezogen und sah in einem Gatten eigentlich nur einen
Beschützer und Gefährten.
Nur müssen wir eingestehen, daß Rachel, als die
Zeit einer schicklichen Trauer vorüber war, sich sehr glück-
lich zu fühlen begann. Sie genoß, wie es ihr schien,
alle Freuden, welche das Leben ihr bieten konnte. Ihr
Haus in der Stadt war entzückend. Sie vereinigte in
demselben eine glänzende Gesellschaft mit künstlerischem
und litterarischem Anstrich. Dummes Volk kannte sie
nicht und wollte sie nicht kennen lernen. Sie schätzte
Männer von Werth und Frauen von Tugend und Talent.
Jedermann, der etwas geleistet hatte und geschätzt wurde,
Jedermann, der etwas sagen konnte, werth, gehört zu
werden, war sicher, bei ihr Zutritt und freundlichste
Ausnahme zu finden. Sie war vernarrt in schöne Kleider,
Mode und Luxus, in alle guten Dinge der Welt, na-
mentlich in Geselligkeit und Unterhaltung, und so ent-
hüllten sich ihr, wie einem glücklichen Kinde der Freiheit,
alle Vortheile und Annehmlichkeiten ihrer Stellung. Es
war kaum möglich, irgendwo ein vollkommeneres, auf-
richtigeres, herzlicheres Entzücken an den Vergnügungen
zu finden, welche ein raffinirter Geschmack ersinnen kann
Armer, alter Sandy Lindsay! Während Du in Deiner
Marmorgruft schlummerst, ist aus der Puppe, welche Du
so lange gehütet, ein glänzender, wonnig taumelnder
Schmetterling ausgekrochen!
 
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