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Ars: časopis Ústavu Dejín Umenia Slovenskej Akadémie Vied — 3.1969

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Nr. 2
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Farner, Konrad: Die Oktoberrevolution und die Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.31181#0355

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Bahn vor sich, besassen sie solch individuelle
und gesellschaftliche Möglichkeiten. Ihr anti-
bürgerlicher Aufstand scheint völlig gerecht-
fertigt und jetzt auch realisiert, ihre Träume und
Projekte, ihre Phantasien und Entwürfe scheinen
erfüllt zu werden. Ihre ,,Revolution der Kunst"
scheint jetzt identisch mit der ,,Kunst der Revo-
lution"; ihre ,,Revolution der Form" als die Revo-
lution des Geistes und des Individuum scheint
jetzt identisch mit der Revolution der Materie
und der Revolution des Volkes. Ja, ihre Bilder
und Skulpturen scheinen ihnen sogar revolutio-
närer als die revolutionäre gesellschaftliche Wirk-
lichkeit, denn sie demonstrieren ja nicht nur das
Neue der Gegenwart, sondern das Revolutionäre
der Zukunft.
Jetzt bekommt ihr künstlerisches Schallen einen
Auftrieb, der alle vorherigen Schaffensjahre weit
hinter sich lässt. Jetzt steigert sich Tatlins ,,Ma-
schinenkunst" ins Grenzenlose und durchstösst
alle bisherigen Horizonte, jetzt monumentalisiert
er seinen Plan des gedrechselten Eiffelturms und
seine Reliefkonstruktionen, die er 1913 in Paris
Picasso vorgeführt ; jetzt findet er endlich diejenige
Gesellschaft, die seiner Kunst die Basis gibt:
,,Nur der Rhytmus der Metropole, der Fabriken
und Maschinen, sowie die Organisation der Masse
können der neuen Kunst ihren Impuls verleihen;
darum müssen die Formen revolutionärer Agita-
tionsplastik, jenseits von der Darstellung des In-
dividuums, aus dem Geist des Kollektivismus
entspringen."
Nun entwirft er das kühne, alles bisherige
übertreffende Projekt eines Denkmals der Kom-
munistischen Dritten Internationale, dieses be-
wegliche Planetarium einer völlig neuen, politi-
schen, sozialen Welt, ein in seiner architektonischen
Konzeption wirklich neuartiges Gebilde aus Stahl
und Glas und anderen noch unbekannten Bau-
stoffen, dessen stete, in sich gegenpolige, spiral-
förmige Rotation der Dialektik der proletarischen
kommunistischen Gesellschaft entspricht und
zugleich die veralteten Gesetze der bürgerlichen
Gesellschaft auf heben soll: ,,Das ganze Denkmal
ruht auf zwei Hauptsachen, die in fester Ver-
bindung miteinander stehen. In der Richtung
dieser Achsen vollzieht sich einerseits eine Be-
wegung nach oben, die jedoch anderseits in jedem
Punkte durch die Bewegung den Schraubenlinien
entlang gekreuzt wird. Das Zusammentreffen

dieser beiden, ihrem Charakter nach einander
widersprechenden dynamischen Momente sollte
eigentlich die Zerstörung ausdrücken, doch er-
zeugen die entgegengewundenen Schraubenlinien
durch das Streben des Hauptgerüstes nach oben
ein dynamisches Gebilde, das durch ein System
ewig gespannter, doch stets erregter und einander
schneidender Achsen bewegt wird. Die Form will
die Materie als Anziehungskraft besiegen und sucht
einen Ausweg mit Hilfe der elastischsten und
flüchtigsten Linien, die es gibt, mit Hilfe der Spi-
ralen. Diese sind voll von Bewegung, Strecksam-
keit und Eilfertigkeit, straff gespannt gleich den
Muskeln hämmernder Schmiede. An und für sich
bedeutet die Anwendung der Spirale für den
Monumentalbau eine Bereicherung der Kompo-
sition. Genau so wie das Dreieck als Sinnbild all-
gemeinen Gleichgewichtes der beste Ausdruck
der Renaissance ist, ebenso liegt in der Spirale
die wirksamste Symbolisierung modernen Zeit-
geistes . . . Während die Bewegungslinie der bür-
gerlichen, nach dem Besitz von Grund und Boden
strebenden Gesellschaft die Horizontale gewesen,
bildet die Spirale, die, von der Erde aufsteigend,
sich von allen tierischen, irdischen und nieder-
drückenden Interessen loslöst, den reinsten Aus-
druck der durch die Revolution befreiten Mensch-
heit ..." — Das sind die Worte Tatlins; wahrlich,
hier ist die Abstraktion im umfänglichsten Masse
ins Monumentale und auch Letzmögliche gestei-
gert, ist der Ideen-Revolution die grösste Symbol-
Wirklichkeit zugewiesen.
Tatlin entwirft nun einen Plan für einen Kultur-
und Arbeitspalast, dessen Konstruktion ebenfalls
alle bisherigen Paläste hinter sich lässt und nicht
bloss einem Herrscher oder einer Minderheit als
herrschende Klasse dient, sondern der modernen,
revolutionären, arbeitenden Menschheit überhaupt :
,,Weshalb errichten wir nicht auf einem gigan-
tischen Stahlfundament ein riesiges Gebäude mit
beweglichen Wänden aus Glas und Aluminium?
Solch ein Palast könnte ungeheure Menschenmas-
sen nach Bedarf aufnehmen, sich zu grandiosen
Sälen öffnen, Massen von Zuhörern auf verschie-
denen Plattformen den Rednern nähern. Wir
brauchen neue Baumaterialen: Stahl, Eisenbeton,
Dur-Aluminium, Glas und Asbest, Materialien,
zu denen unsere ganze Kultur unaufhaltsam
übergeht. In den grossen Sälen müssen durch
elektrische Membranen die akustischen Verhält-

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