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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,1.1916

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1916)
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Stapel, Wilhelm: Wölfflins "Kunstgeschichtliche Grundbegriffe"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14295#0033

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jeder Art kann Vollkommenes und Unvollkommenes geleistet werden, man
kann auf diese Begriffe nicht Werturteile wie Blüte und Verfall oder
Primitivität und Vollendung anwenden.

Ob nun die optische Entwicklung vom sechzehnten zum siebzehnten Iahr--
hundert durch jene fünf Begriffspaare völlig umschrieben ist, das läßt
Wölfflin dahingestellt, es sei möglich, daß es noch etliche mehr gäbe. Diese
Begriffspaare müssen, da sie Beschreibung eines im Ganzen einheitlichen
großen Prozesses sind, in gewissem Verhältnis zueinander stehn. Ihr
Verhältnis ist von Wölfflin nicht systematisch untersucht, er gibt nur hin
und wieder einzelne Hinweise auf ihre innere Verwandtschaft. Lr spricht
sich über den inneren Zusammenhang nicht bestimmt aus. Einmal (S. s(5)
heißt es von den Grundbegriffen, daß sie „zusammengreifen, es sind die
verschiedenen Wurzeln eines Gewächses: es ist überall ein und dieselbe
Sache, nnr von verschiedenen Punkten aus gesehen". Dann wieder (S. 238):
es sei möglich, daß die aufgezählten „Kategorien" „nicht so unter sich ver-
wandt sind, daß sie in teilweis anderer Kombination undenkbar wären.
Immerhin, bis zu einem gewissen Grade bedingen sie sich gegenseitig und,
wenn man den Ausdruck nicht wörtlich nehmen will, kann man sie wohl
als fünf verschiedene Ansichten ein und derselben Sache bezeichnen." Es
sei darauf hingewiesen, daß eine vollständige „Kategorientafel", wie sie
Kant auf anderm Gebiet versuchte, hier nicht wohl möglich ist, da es sich
hier um die Beschreibung eines Historisch-psychologischen Vorgangs handelt.
Eine solche Beschreibung ist ihrem Wesen nach „unendlich^; je weiter
man dringt, um so mehr Eigenschaften wird man „begrifflich" festlegen
können. Die Begriffe bezeichnen hier eben Eigenschaften, nicht Kategorien;
daher der von Wölfflin für seine Grundbegriffe gelegentlich verwendete
Ausdruck „Kategorien der Anschauung" besser vermieden würde.

Es muß der Einzelforschung überlassen bleiben, zu untersuchen, ob
Wölfflins Grundbegriffe zu koordinieren sind oder in welchem Verhältnis
sie sonst zueinander stehn, ferner, ob sie das Gegenständliche in richtiger
und erschöpfender Weise erfassen. Doch knüpfen sich daran auch eine Reihe
allgemeiner Fragen: erstens die nach der Arsache der Veränderung der
Sehformen, ob sie „Folge einer inneren Entwicklung ist, einer gewisser-
maßen von selber sich vollziehenden Entwicklung im Auffassungsapparat,
oder ob es ein Anstoß von außen ist, das andere Interesse, die andere
Stellung zur Welt, was die Wandlung bedingt". Zweitens die Frage
nach der Periodizi.tät der Entwicklung: gilt die von Wölfflin fest-
gestellte Veränderung der Sehformen außer für die Wandlung von der
Renaissance zum Barock auch für andre Entwicklungen der Kunst? Er
nimmt es an, freilich unter dem Vorbehalt, daß die Entwicklungen durch
zahlreiche andere Einflüsse abgelenkt, gebrochen oder doch irgendwie ge-
ändert werden. In der Antike scheint allerdings eine durchaus parallele
Entwicklung vorzuliegen, ob man aber auch die Entwicklung in der Gotik
wirklich mit Wölfflins Grundbegriffen erfassen kann, scheint mir zweifel-
haft. Iedenfalls bedarf es hier eingehender Untersuchungen, die kurzen
Hinweise auf Seite 2^3 überzeugen nicht. Vielleicht darf man nur von
einer „parallelen Gesamtbewegung" sprechen, auf die man Wölfflins Kate-
gorien „nicht unmittelbar übertragen" kann, sondern für die man neue
Begriffe bilden muß? Aus der Periodizität der Entwicklung ergibt sich
als drittes großes Problem das des Neu-Anfangens. Warum
„bricht" eine Entwicklung an einem bestimmten Punkt „ab" oder „schlägt

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