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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 31,3.1918

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Heft 16 (2. Maiheft 1918)
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Schumann, Wolfgang: Carl Hauptmann: zu seinem 60. Geburttag
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https://doi.org/10.11588/diglit.14373#0108

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„Moses"-Drama; zu dem uugeurein liebenswerten, wieder in der schlesischen
Heimat spielenden und aus ihr Kraft saugenden Märchenstück von den „Besen-
bindern"; zu dem grotz angelegten und geschauten, aber leider unausgereiften
Tedeum „Krieg". Durch diese Reihe aber schlingt sich eine andre, deren Stoff
der „Wirklichkeit" entnommen ist, und die ich im ganzen für die stärkere von
beiden halte. In sie gehört „Mathilde", die Geschichte einer armen Frau, gewiß
nicht ein „sozialer Roman", gewiß nicht eine Frucht liebevoller, mitleidiger,
das soziale Gefühl anspornender Einfühlung in die Lebenslage des Prole-
tariats, gar nicht verwandt den Romanen Andersen-Nexös, Ieppe Aakjaers
oder Max Kretzers, wohl aber die intuitive Verherrlichung der urnatürlichen
Lebenskraft einer zwar proletarischen, jedoch starken und triebhaft großzügigen
„Persönlichkeit"; in diese Reihe gehören die Riesengebirgerzählungen „Aus
Hütteu am Hange", eins der reichsten und echtesten Bücher aus dem Bezirk
dichterisch hochstehender „Heimatkunst"; in diese Meihe die Gestaltung des
wundersamen Schicksals einer ganz intuitiven Künstlerpersönlichkeit inpntten
der mechanisierten Weltz einer der ersten und stärksten soziologischen Romane
des zwanzigsten Iahrhunderts: „Einhart der Lächler"; in diese Reihe das
ganz „naturalistische", mit gewaltiger Spannung arbeitende Drama „Die lange
Iule"; in diese eine Anzahl gesellschaftschildernder oder naturspiegelnder Er-
zählungen („Miniaturen", „Einsältige", „Schicksale", „Rübezahlgeschichten", „Iu-
das", „Ismael Friedmann"). U,nd alle diese beweisen, wie mir scheint, durch
Beispiel und Gegenbeispiel, immer wieder eins: in Carl Hauptmann haben wir
einen der stärksten deutschen Dichter dieser Zeit vor uns, sobald er aus den
Unerschöpflichkeiten intuitiv erschaubarer oder sozusagen „gut beobachtbarer" Natur
schöpft, einen Dichter von bestrickender Phantasie und sprudelnder Erfindung,
sobald diese ganz „frei" von Nebenabsichten sich ausleben, wie im Märchen.
Aber seine Kraft sinkt, je mehr er sich der Absicht nähert, objektive, ausgewogne
Schilderung gesellschaftlicher „Zustände" oder „Probleme" zu geben; und sie
versagt, wo Intuition nicht ausreicht und ein Anknüpfen an Wirklichkeit un°
möglich ist, wie etwa in dem zerflatternden Drama „Napoleon".

Ist dem nun so, dann freilich liegen anscheinend Begabung und künstlerische
Absicht in Hauptmann im ärgsten Streit. Denn ziemlich offensichtlich will
er am liebsten, was ihm am wenigsten liegt, das „große", das Ideen- und
Problem-Drama, den Problem-Roman. Er will, mit andern Worten, „Kunst"
im engeren Wortsinn, eine Dichtung, die auf eindringlichster Äberlegung und
größtem technischen Können beruhen müßte, die er aber „intuitiv" schaffen möchte.
Immer erneut er den vergeblichen Versuch, auf den ersten Wurs, aus der
bloßen Kraft der Begabung heraus, „vollkommene" Werke größten Stoffs
und Gehalts, tiefster Einsicht und schlackenloser Prägung zu gestalten, und so
ist er verurteilt, hier zu scheitern, wie jeder andre auch dazu verurteilt wäre,
der solche Aufgaben s o lösen wollte. Von den sprachlich meist zerfahrenen
und mehr schillernden als kerngehaltreichen, manchmal geradezu nichtigen Ver-
suchen der letzten Iahre zu reden, bedeutet für die Freunde seiner andern
Dichtungen nicht selten Verlegenheit.

In der letzten Zeit ist Hauptmann in den Kreis der „Iüngsten", der „Ex-
pressionisten", hineingeraten. Verbindet ihn etwas mit ihnen? Er schrieb in
sein „Tagebuch": „Denken quält", „Denken ist Schwanken", „Denken ist Zwang";
„Alle Kunst ist Leben, Traum, Wahnsinn, Leiden und Seligsein, nach keinem
andern Muster, als dem Zufall der flüchtigsten Stunde"; „Die Kunst, die uns
nicht denken, die uns erbeben macht im Innersten, die nicht den Verstand,
die den ganzen Menschen aufschließt, erschüttert und erfüllt." Dieser an-
archistische Zug, der übrigens auch ins Politisch-Soziale hinübergreift, und der
das Gewaltsame, Formlose, Eruptiv-Zerflatternde mancher Häuptmannschcr Dich-
tungen begründet, ist ihm zweifellos gemeinsam mit vielen Iüngeren. Aber in
seiner Welt des „reinen Schauens" ist weder das besondre Ethos, das manche
von dresen erstreben, noch die wurzellose „Freiheit", die sie entzückt. Immer
wieder strömt bei Hauptmann aus Wirklichem Bild und Empfindung ein in

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