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Die Dioskuren: deutsche Kunstzeitung ; Hauptorgan d. dt. Kunstvereine — 12.1867

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https://doi.org/10.11588/diglit.13559#0322

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behagen des Menschen und in Folge dessen auch sein geistiges
und sittliches Wohl abhängig.

Dies ist eine so alte und bekannte Erfahrung, daß be-
sondere Beweise dafür beibringen zu wollen, Eulen nach Athen
tragen hieße. Für die Entwicklung der großen Städte erhält
sie aber noch eine ganz besondere Wichtigkeit. Die theoretische
Ueberzeugung, daß die Hebung der sittlichen Zustände im Großen
und Ganzen wesentlich von der Verbesserung der Wohnungs-
Verhältnisse abhängig ist, hat allmälig ein praktisches Bedürf-
niß hervorgerufen; und zwar gilt dies nicht blos für die ärmeren
Klassen, das sogenannte Proletariat, dessen Verkommenheit mit
dem Mangel einer Häuslichkeit gleichen Schritt hält, sondern
auch für die wohlhabenderen und vornehmen Klassen, denen
ebenfalls durch den abscheulichen, Stock auf Stock thürmenden,
Giebel an Giebel pressenden Miethskasernensthl die „Häuslich-
keit", d. h. das in sich abgeschlossene, ruhige Familienleben viel-
fach beschränkt, ja unmöglich gemacht wird.

Die Häuslichkeit! Mit bewundernswürdigem Instinkt
giebt unsre gute deutsche Sprache in diesem Worte den Finger-
zeig, daß das Glück und der Friede der Familie auf's Innigste
mit der Behausung zusammenhängt. Denn mit „Häuslich-
keit" bezeichnet sie nicht etwa blos die letztere, sondern viel
mehr die innerliche Existenz, das Leben innerhalb der vier
Wände des Hauses. In dem Besitz einer „glücklichen Häus-
lichkeit" koncentrirt sich für den Deutschen Alles, was die Fa-
milie an Segen ihren Gliedern spendet. Kann aber diese
Häuslichkeit, unter dem stets von Außen eindringenden Geräusch
des geschäftlichen Lebens in großen Städten, wirklich gedeihen?
Müssen nicht, wie die Sänger des Waldes vor der dröhnenden
Axt des Holzschlägers, die der heimischen Stille bedürfenden
Empfindungen des Familienlebens fliehen vor der Berührung
mit der stets sich eindrängenden Außenwelt und ihrem geräusch-
vollen Getreibe? — Der Mangel an wahrer Häuslichkeit ist in
den großen Städten die eigentliche Ursache der Veräußer-
lichungdesLebens, dieH auptquelle für die allmälige Lockerung
der Familienbande, kurz für die Entsittlichung gerade in den
höheren Schichten der Gesellschaft. Es wäre ein die Ursache
mit der Wirkung verwechselnder Fehlschluß, zu meinen, daß das
allmälige Verschwinden der Häuslichkeit erst die Folge der
Veräußerlichung des Lebens sei. Nein, die Unmöglichkeit, bei
der bisher üblichen Bauweise in großen Städten den für das
Stillleben des Familienglücks nothwendigen Frieden nach Außen,
die Ruhe und behagliche Abgeschlossenheit des Privatlebens nach
Innen zu bewahren, macht eine wahrhafte Häuslichkeit fast
unmöglich und treibt eben den Menschen dazu, nach Außen hin
zu leben, draußen seine Freuden und Genüsse zu suchen.

Aber bereits beginnt eine wohlthätige Reaction der Huma-
nität und ihrer Forderungen gegen den lärmenden Gelderwerb
und seine Tyrannei, die Reaction der friedensvollen und glück-
bringenden Häuslichkeit gegen die unruhevolle und herzaustrock-
nende Spekulation des Geschäftsverkehrs.

Schon stehen wir — Gott sei Dank — heutzutage nicht
mehr auf jenem, durch den ungeheuren, fieberhaft gesteigerten
Aufschwung des industriellen Verkehrs innerhalb der letzten
dreißig Jahre gerechtfertigten Standpunkt, zu meinen, daß das
moderne Leben, die moderne Kultur sich vorzugsweise in dem

„Geschäft" koncentrire, daß diesem jedes andere Interesse ent-
weder dienstbar gemacht oder geopfert, jedenfalls aber unter-
geordnet werden müsse. Die gegenwärtige Menschheit fängt
an darüber zur Besinnung zu kommen, daß die für die humane
Bildung, für die geistige Kulturentwicklung so gefährliche Um-
kehrung von Mittel und Zweck in der Werthschätzung der Lebens-
mächte einer ruhigeren, würdigeren Anschauung zu weichen, daß
die Hast des Erwerbens, der Wettlauf nach Reichthum zurück-
zutreten habe gegen das Bedürfniß edeleren und tieferen Lebens-
genusses. Kunst und Wissenschaft, in Gefahr, nur als Dienerin-
nen des Handels und der Industrie gefördert und geachtet zu
werden, beginnen wieder in ihrem hohen Selbstzweck erkannt
und auf den Thron des Kulturlebens erhoben zu werden.

Es ist wahr, die großen Städte sind vorzugsweise berufen,
die Sammelplätze des Reichthums und der Macht, die Knoten-
punkte des industriellen Weltverkehrs, die Centralorgane des
ausgedehntesten, vielfach verschlungenen Geschäftslebens zu sein;
aber mich dünkt, dieser Beruf sei doch nur — als Mittel für
den Zweck — ein untergeordneter gegen den höheren, daß sie
zugleich als die Sammelplätze der Bildung, als die Knoten-
punkte des wissenschaftlichen, künstlerischen, politi-
schen Weltverkehrs, als die Centralorgane des höchsten Kultur-
lebens überhaupt fungiren.

Ist demnach der Vorwurf gegen die großen Städte ge-
rechtfertigt, daß in ihnen wohl Verstand, Phantasie und Sinne
reichliche, ja überreichliche Nahrung und Beschäftigung finden,
desto weniger aber diejenige Seite des menschlichen Geistes, welche
man mit „Gemüth" bezeichnet, daß die Innerlichkeit des Empfin-
dens, die ruhige Beschaulichkeit und Vertraulichkeit des Familien-
lebens in dem betäubenden Lärm des geschäftlichen Treibens
und dem rauschenden Prunk äußerlichen Vergnügens verloren
gehe: so dürfen wir aus jenem, überall in unverkennbaren
Symptomen sich kundgebenden Streben nach einer auf die Be-
friedigung der Bedürfnisse des Familienlebens gerichteten Regene-
ration unsrer gesellschaftlichen Zustände die trostreiche Hoffnung
auf eine bessere Zukunft schöpfen. Aber um so dringender ist
die Pflicht derjenigen, welche die Quelle jener Depravation des
socialen Lebens in großen Städten erkannt haben, nach den
Mitteln zu forschen, durch welche eine Abhülfe möglich ist.

Eins der tiefeingreifendsten, den eigentlichen Lebensorganis-
mus der großen Städte berührenden Mittel ist nun, meiner
innigsten Ueberzeugung nach, die Verbesserung der Wohnungs-
Verhältnisse nicht blos für die Armen, sondern auch für die
Wohlhabenderen; und diese Frage gipfelt eben in jener Alter-
native, mit der ich meine Betrachtung begonnen: „Villa oder
Miethskaserne?" d. h. mit andern Worten: Soll, bei der
durch die stetige Zunahme der Einwohnerzahl in
großen Städten nöthig werdenden Vergrößerung
und Ausdehnung, in die Höhe und Tiefe oder aber
in die Breite gebaut werden?

Diese Frage, deren Tragweite nicht nur in höherer, so-
cialer, sondern auch in kommerzieller Beziehung von dem aller-
größten Gewicht ist, hat denkende Geister aller Nationen, na-
mentlich in England und Deutschland, von jeher lebhaft be-
schäftigt. Sie erkannten in dem fast in allen großen Städten
sich kundgebenden Drange, außerhalb des sich centralisirenden
 
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