Aristoteles.
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in keiner Weise einen ethischen Zweck und Charakter haben soll,
durchaus in Widerspruch steht mit den aristotelischen Grundsätzen
sowie mit den Anschauungen und Grundsätzen der griechischen Den-
ker und Dichter überhaupt. Das Wort „Pathemata“ in der ari-
stotelischen Definition der Tragödie fasst Stahr auf in der Bedeu-
tung von „Erleidnissen, Eindrücken leidvoller Art“, ana-
log den „Math em ata, Erkenntnisse“ (wie in dem bekannten
herodoteischen Spruche aa&r^ccra . . . [MX&rj[Lata ysyovs I, 207),
und nicht in der Bedeutung von „Gemüthsaffectionen“', da ja die
Tragödie im Allgemeinen und für Alle ihre Wirkung äussert, und
nicht gerade nur für diejenigen, welche eine besondere Reizbarkeit
für Furcht und Mitleid, oder eine für diese Empfindung besonders
gestimmte Gemüthsaffection haben. Endlich wird bewiesen, dass
die oben angedeuteten Stellen der beiden Neuplatoniker, welche
Bernays mit so zuversichtlicher Behauptung für Fragmente und Aus-
züge eines verloren gegangenen Theiles der aristotelischen Poetik
ausgibt, durchaus nicht mit solcher Bestimmtheit auf diese Quelle
zurückgeführt werden können, ja vielmehr eher derselben abzuspre-
chen sind.
Was das Wesen der tragischen Katharsis selbst betrifft, so
bringt der Verfasser dasselbe in Zusammenhang mit dem berühmten
aristotelischen Satze, dass die Poesie philosophischer sei, als die Ge-
schichte; und er findet den Sinn der Katharsis bei Aristoteles
ganz treffend aufgefasst und ausgedrückt in dem Urtheile Hegel’s
über das Wesen der alten Tragödie, von welcher dieser sagt: „dass
in ihr nicht das Unglück und Leiden, sondern die Be-
freiung des Geistes (die Katharsis) das Letzte ist, inso-
fern am Ende die Nothwendigkeit dessen, was den
Individuen geschieht als absolute Vernünftigkeit er-
scheint und dadurch das Gemüth wahrhaft sittlich be-
ruhigt ist: erschüttert durch das Loos des Helden (d.
h. öl f’Aeov aal tpoßov), versöhnt mit der Sache“.
Die Ausführung dieser Widerlegung gibt Hr. Stahr auf eine
sehr klare, anziehende und zugleich urbane Weise. Man erkennt
darin überall Beweise eines eingehenden Studiums und genauer
Kenntniss der Werke des Aristoteles. Man kann bei dieser Gele-
genheit nur aufs neue bedauern, dass der Verfasser, welcher in frü-
hem Jahren sich den aristotelischen Studien mit so viel Eifer und
Erfolg hingab, später den Hallen und Gängen des Lyceums volk-
reichere Plätze und Strassen vorzog.
Der Unterzeichnete hat es gleichfalls versucht, in der Einleitung
zu der in der Ueberschrift angeführten Uebersetzung der aristoteli-
schen Poetik einen Beitrag zu der Erklärung der viel besprochenen
tragischen Katharsis zu geben. Er stimmt in der Ablehnung der
Bernays’schen Erklärung, wornach die tragische Katharsis nichts
anderes als ein Purgativ für gewisse Gemüthsaffectionen ohne allen
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in keiner Weise einen ethischen Zweck und Charakter haben soll,
durchaus in Widerspruch steht mit den aristotelischen Grundsätzen
sowie mit den Anschauungen und Grundsätzen der griechischen Den-
ker und Dichter überhaupt. Das Wort „Pathemata“ in der ari-
stotelischen Definition der Tragödie fasst Stahr auf in der Bedeu-
tung von „Erleidnissen, Eindrücken leidvoller Art“, ana-
log den „Math em ata, Erkenntnisse“ (wie in dem bekannten
herodoteischen Spruche aa&r^ccra . . . [MX&rj[Lata ysyovs I, 207),
und nicht in der Bedeutung von „Gemüthsaffectionen“', da ja die
Tragödie im Allgemeinen und für Alle ihre Wirkung äussert, und
nicht gerade nur für diejenigen, welche eine besondere Reizbarkeit
für Furcht und Mitleid, oder eine für diese Empfindung besonders
gestimmte Gemüthsaffection haben. Endlich wird bewiesen, dass
die oben angedeuteten Stellen der beiden Neuplatoniker, welche
Bernays mit so zuversichtlicher Behauptung für Fragmente und Aus-
züge eines verloren gegangenen Theiles der aristotelischen Poetik
ausgibt, durchaus nicht mit solcher Bestimmtheit auf diese Quelle
zurückgeführt werden können, ja vielmehr eher derselben abzuspre-
chen sind.
Was das Wesen der tragischen Katharsis selbst betrifft, so
bringt der Verfasser dasselbe in Zusammenhang mit dem berühmten
aristotelischen Satze, dass die Poesie philosophischer sei, als die Ge-
schichte; und er findet den Sinn der Katharsis bei Aristoteles
ganz treffend aufgefasst und ausgedrückt in dem Urtheile Hegel’s
über das Wesen der alten Tragödie, von welcher dieser sagt: „dass
in ihr nicht das Unglück und Leiden, sondern die Be-
freiung des Geistes (die Katharsis) das Letzte ist, inso-
fern am Ende die Nothwendigkeit dessen, was den
Individuen geschieht als absolute Vernünftigkeit er-
scheint und dadurch das Gemüth wahrhaft sittlich be-
ruhigt ist: erschüttert durch das Loos des Helden (d.
h. öl f’Aeov aal tpoßov), versöhnt mit der Sache“.
Die Ausführung dieser Widerlegung gibt Hr. Stahr auf eine
sehr klare, anziehende und zugleich urbane Weise. Man erkennt
darin überall Beweise eines eingehenden Studiums und genauer
Kenntniss der Werke des Aristoteles. Man kann bei dieser Gele-
genheit nur aufs neue bedauern, dass der Verfasser, welcher in frü-
hem Jahren sich den aristotelischen Studien mit so viel Eifer und
Erfolg hingab, später den Hallen und Gängen des Lyceums volk-
reichere Plätze und Strassen vorzog.
Der Unterzeichnete hat es gleichfalls versucht, in der Einleitung
zu der in der Ueberschrift angeführten Uebersetzung der aristoteli-
schen Poetik einen Beitrag zu der Erklärung der viel besprochenen
tragischen Katharsis zu geben. Er stimmt in der Ablehnung der
Bernays’schen Erklärung, wornach die tragische Katharsis nichts
anderes als ein Purgativ für gewisse Gemüthsaffectionen ohne allen