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1fr. 57.

HEIDELBERGER

1865.

JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Kitz: Sein und Sollen.

(Schluss.)
Nicht darin, dass man im Rechte das Sittengesetz übertreten
kann, liegt der Unterschied des Rechtes und der Sittlichkeit, son-
dern im Unterschiede der Nöthigung. Der Staat ist nicht eine blosse
Rechtsschutzanstalt, sondern er bestimmt durch das Gesetz, was
Recht und was Unrecht ist, und ist die Anstalt, welche zur Er-
füllung des Gesetzes zu zwingen im Stande ist, die Gewalt hat und
wirklich dazu zwingt, die Gewalt anwendet. Wenn also ein Mensch
unsittlich handeln wollte und das das Recht bestimmende Staats-
gesetz den Menschen zum Erfüllen des Sittlich Gebotenen zwingen
kann, so besteht der Unterschied des Rechtes und der Sittlichkeit
nicht darin, dass beim Rechte auch die Möglichkeit, das Sitten-
gesetz nicht zu erfüllen, gegeben ist, weil ja hier durch das Recht
das Gebot der Sittlichkeit im äussern Handeln wenigstens erfüllt
wird, sondern darin, dass man beim Rechte zur Erfüllung des
Sittengebotes gezwungen wird, während das Sittengesetz eine innere
(moralische) Selbstnöthigung ist. Man kann sich das Recht nicht
ohne Rechtsgesetz und dieses nicht ohne den Staat denken. Das
ursprüngliche Recht des Menschen, vom Staate abgesehen, ist, wie
Spinoza sagt, das Recht auf Alles, was der Mensch kann; es geht
so weit, als seine Macht. Bei der Begründung des Rechtsgesetzes,
welches ohne Staat unmöglich ist, handelt es sich nicht um jenes
ursprüngliche Recht eines uns unbekannten Naturzustandes, der
nicht einmal in den Wäldern der Wilden angetroffen wird.
Wenn dem Herrn Verf. die Ableitung des Sittengesetzes aus
Gottes Willen nicht gelungen ist, so kann er natürlich auch das
Rechtsgesetz nicht aus ihm herleiten, da sich dieses auf jenes stützt.
Diese Ableitung hat aber auch noch eine andere Seite, weil namentlich
auch die Theologie in ihrer hyperorthodoxen Gestalt und in glei-
cher Weise die unter der Firma der Theokratie herrschende Hier-
archie sich auf den Willen Gottes berufen. Freilich ist dieses bei
unserm Herrn Verf. nicht der Fall; aber bekanntlich hat man im
Mittelalter die grausamsten Handlungen des kirchlichen Fanatis-
mus mit dem Willen Gottes entschuldigt. Sittlichkeit und Recht
sind im Wesen des Menschengeistes begründete Erscheinungen und
müssen darum zunächst aus diesem abgeleitet und durch ihn be-
gründet werden. v. Reichlili-Meldegg.
LV III. Jahrg. 12. Heft. 57
 
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