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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 18.1907

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Michel, Wilhelm: Der Geschmack des Publikums
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https://doi.org/10.11588/diglit.7501#0337

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INNEN-DEKORATION

323

man seine Erzeugnisse so oft
und so lange gesehen hat,
daß man sich daran gewöhnen
konnte. Und es ergibt sich:
Das Publikum hat gewiß keinen
guten, aber es hat auch keinen
positiv schlechten Geschmack.
Es wählt überhaupt nicht nach
geschmacklichen Rücksichten,
sondern es wählt auf Grund
jener uralten und einfachen
Psychologie, welche die Psy-
chologie der Mode heißt.
Versehen die Damen ihre Blusen
und Paletots etwa deshalb mit
Schinkenärmeln, weil sie die-
selben geschmackvoller oder
zweckentsprechender finden,
als die enganliegenden Ärmel?
Und bevorzugen sie zu anderen
Zeiten die glatten Ärmel, weil
sie objektive, ewige, aus der
Natur des Armes sich ergebende
Vorzüge haben? Keineswegs.
Sondern Jedermann, auch der
tagfeindlichste deutsche Pro-
fessor , hat es schon an sich
erlebt, daß die neuen Formen
der Mode wahllos kommen wie
der Strahl aus der Wolke, daß
selbst das Dümmste und Un-
geschickteste sich allmählich
einen Weg zum Geschmacks-
zentrum in unserem Hirn bahnt
und sich schließlich dem Auge
empfiehlt, weil es so und so
oft gesehen wurde und weil
unsere geschmackliche Reni-
tenz sich allmählich daran
die Zähne stumpf gebissen
hat. Wenn das Publikum den
Jugendstil angenommen hat,
der einmal — ich erinnere
an die Möbel von Christiansen

— auch in intellektuellen Kreisen als eine gute, neue
Möglichkeit galt, weshalb sollte es da nicht auch eines
Tages die neueren kunstgewerblichen Entwicklungen
beifällig begrüßen?

Das ist zum Teil schon geschehen. In gewissen
Kreisen des Publikums, besonders in solchen, die Geld
und Bildung besitzen, ist es heute schon Mode, den
Jugendstil abzulehnen und die neuere, einfachere, nicht
so rein auf Dekoration gestellte Arbeitsweise zu bevor-
zugen. Diese Leute haben vielleicht viele kunstgewerb-
liche Ausstellungen gesehen, sie lesen auch die
vornehmen Publikationsorgane der angewandten Kunst
und sie lassen sich von der dort betonten Notwen-
digkeit des Fortschrittes überzeugen. Allenfalls be-
greifen sie auch die rein praktischen Vorzüge, welche
die neuere, gediegene Arbeitsweise besitzt. Aber auch
sie wählen nicht etwa aus gutem Geschmack, beileibe
nicht. Man braucht nur zu sehen, wie sie den fertig
gelieferten Raum komplettieren, wie sie den Wand-
schmuck, die Heizkörper behandeln, wie sie die kostbaren

ENTW.: WELLERMANN UNI)
AUSFÜHRUNG: SCHNEIDER

FRÖLICH-BREMEN.
& HANAU-FRANKFURT A. M.

Aus einem Salon der
sogen.» Kaiser-Zimmer*.

Möbel an die Wände stellen, welche Kombinationen
sie vornehmen. Ich kenne einen Raum, der enthält
das bekannte, vielberufene Damenzimmer von Bernhard
Pankok und außerdem noch eine Garnitur moderner
Polstermöbel, weil das Zimmer durch Pankoks Schöpfung
nicht ganz ausgefüllt wurde. Pankoks Möbel sind zier-
lich, elegant, preziös; sie haben gebrechliche, nervöse,
launische Formen, sie sind feingliedrig, fast schmachtend.
Die erwähnten Polstermöbel aber sind kastenartig streng,
viereckig, hieratisch steif wie altassyrische Steinsessel,
dickwandig und klumpfüßig — kurz, es ist ein Greuel,
beide Einrichtungen auf engem Raum neben einander
zu sehen. Beide sind in ihrer Art gut, aber der Ge-
schmack, der sie wählte und kombinierte, war nicht
gut. Er war auch nicht schlecht, sondern er war über-
haupt nicht. Hier hat nicht ästhetisches Urteil, sondern
die Mode gewählt. Wenn das Publikum gute Sachen
bevorzugt, so tut es das nicht aus gutem Geschmack.

Das Publikum hat in Wirklichkeit gar keinen Ge-
schmack.
 
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