Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 18.1907

DOI Artikel:
Widmer, Karl: Zur Entwicklung des modernen Wohnhauses
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7501#0071

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
5 7

ZUR ENTWICKLUNG DES MODERNEN WOHNHAUSES.

Von Karl W i d m e r-Karlsruhe.

Es war einer der schwersten Verluste für unsere
künstlerische Kultur, daß die Fassadenarchi-
tektur des neunzehnten Jahrhunderts die beiden
Charakterformen des bürgerlichen Wohnhauses, die
uns unsere Vergangenheit im Bürgerhaus des
Mittelalters und im Biedermeierhaus überliefert hat,
in ihrem künstlerischen Wert verkannt hat. Durch
die Nachahmung des Palazzostils wurde die bürger-
liche Baukunst auf den Boden einer aristokratischen
Repräsentationskunst gestellt. Statt Bürgerhäuser
zu bauen, kopierte man Palast-
fassaden im Äußern und Palast-
säle im Innern. So ging uns
der Stil des echten Bürgerhauses
verloren, und es gehört zu
den wichtigsten Kulturaufgaben
unserer Zeit, durch die An-
knüpfung an die vorbildliche
Überlieferung bürgerlicher Kunst
wieder den Boden für die Ent-
wicklung eines modernen Bürger-
hausstiles zu schaffen.

Auf einem Gebiet des Häuser-
baues war die Architektur schon
seit der Mitte des neunzehnten
Jahrhunderts Wege gegangen, die
von der Nachahmung des Palazzo-
stils wegführten: im Schloßbau.
Hier bekam der mittelalterliche
Burgenbau einen entscheidenden
Einfluß. Namentlich da, wo der
romantische Charakter der Land-
schaft dazu einlud, entstanden auf
Hügeln und Bergen moderne
Villen und Schlösser mit Zinnen
und Türmen und allen Zutaten
einer echten Ritterburg. Das war
freilich ein Spielen mit den Äußer-
lichkeiten mittelalterlicher Bau-
kunst, das mit den eigentlichen
Zwecken des Wohnens wenig zu
tun hatte. Es führte darum zu
einem Widerspruch von Form
und Inhalt, der sich am Prak-
tischen rächte. Wie der Palazzo-
stil der akademischen Fassade, so
opferte der Burgenstil der male-
rischen Gruppe die Vollkommen-
heit der inneren Anlage. Durch
das Aufbauen zweckloser Türme,

PROFESSOR BRUNO PAUL. Pfeiler-Schränkchen

Ausführung: Vereinigte Werkstätten
für Kunst im Handwerk—München.

unbenutzbarer Erker und dergl. wurden die Grund-
risse unnötig zerstückelt, mit Raum und Material
eine zweckwidrige Verschwendung getrieben. —
Viel tiefer faßte das Wesen mittelalterlicher Bau-
kunst die neue Bewegung, die seit den neunziger
Jahren eine künstlerische Reform des modernen
Stadthauses einleitete. Auch sie fand in der freien
Gruppierung die beste Form des Wohnhauses.
Aber sie suchte dabei den gesetzmäßigen Zusammen-
hang zwischen Form und Inhalt. Die malerische
Erscheinung, die sich aus der
Unregelmäßigkeit ergab, war an
den alten Bauwerken keine ästhe-
tische Willkür, sondern die
logische Folge des Bauens von
innen heraus gewesen. Das sollte
künftighin auch für das moderne
Wohnhaus maßgebend sein: zu-
erst das Innere, dann das Äußere!
Für das Innere ergab sich daraus
eine Reihe von praktischen Ver-
besserungen der Raumeinteilung
und Raumgestaltung. Diese Bau-
weise bindet an kein Schema,
wie es die Rücksicht auf eine
symmetrische Fassade verlangt.
Sie läßt freie Hand für einen
behaglichen Ausbau der Zimmer
durch bewohnbare Erker, sie er-
möglicht eine zweckmäßige Ein-
teilung der Fenster u. dergl. Der
äußeren Architektur verleiht sie
den künstlerischen Vorzug einer
zugleich malerischen und für die
Bestimmung des Hauses charak-
teristischen Erscheinung. Sie
maskiert das Haus nicht mit
den Formen eines übertragenen
Monumentalstils. Form und In-
halt sind Eins.

Freilich ging man dabei in
der Freude am Gruppieren viel-
fach über das Maß des Notwen-
digen hinaus. Die Verführung
war zu groß, als daß nicht auch
um des malerischen Reizes willen
mit der Unregelmäßigkeit koket-
tiert worden wäre. Man über-
sah, daß die vollendete Unregel-
mäßigkeit auch im Mittelalter

1(107. II. 2
 
Annotationen