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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 18.1907

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Michel, Wilhelm: Bruno Paul als Innen-Künstler
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https://doi.org/10.11588/diglit.7501#0063

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INNENDEKORATION

XVIII. 3flHRGHIlG. Dcirmffcidt 1907, F6BRUHR-HOT.

BRUNO PAUL ALS INNEN-KÜNSTLER.

Von Wilhelm Michel — München.

Zwei Faktoren haben bis auf unsere Tage die
Entwicklung der Kunst und des Kunst-
gewerbes bestimmt: der ererbte Formenschatz älterer
Epochen und die plastische Kraft des Zeitgeistes.
Die Formenüberlieferung ist das beharrende, das
weibliche Element. Sie ist der natürlich gegebene
Stoff, in dem die verschiedenen Zeitalter ihre kul-
turelle Sonderart, ihr eigentümliches Streben, ihre
großen, endemischen Gedanken ausprägen. Von
jeher war es das unbewußte Streben jeder Epoche,
in allen ihren Lebensäußerungen eine treue Selbst-
darstellung zu geben. Mit diesem Willen tritt der
Zeitgeist an die Schätze der Tradition heran und
bildet sie so lange aus, bis er ihnen seinen eigenen
Charakter aufgeprägt hat. Selbstdarstellung ist das
Ziel, der Stoff ist die Überlieferung, und aus dem
fortwährenden Ersätze der älteren Selbstdarstellung
durch die jüngere entsteht nach und nach der
Begriff der Entwicklung.

Daraus geht zunächst hervor, daß der Anschluß
an die Tradition nur Mittel zum Zweck ist. Ein
hervorragendes Mittel freilich und deshalb das einzig
naturgemäße, weil sich ja auch die Zeitcharaktere

in stetiger, gemessener Umbildung auseinander
entwickeln. Nur an einer Stelle der modernen
Kunstgeschichte scheint ein Bruch, ein geflissent-
liches Außerachtlassen der Tradition vorzuliegen.
Die italienische Renaissance verzichtet auf die Fort-
bildung der in den westlichen Ländern erwachsenen
Formenüberlieferung und schließt sich bewußt an
die Formsprache des spätrömischen Altertumes an.
In Wirklichkeit jedoch ist dieser Bruch nicht so
scharf gewesen, wie es bei oberflächlicher Kenntnis
den Anschein hat. Man weiß, daß in Italien und
sogar auch in germanischen Ländern die Anstreng-
ungen zur Fortsetzung der römischen Tradition
niemals ganz ausgesetzt haben, und man kann mit
einigem Rechte sagen, daß mit der eigentlichen
Renaissance nur eine solche Tradition hervorbrach,
die in unzusammenhängender und heimlicher Weise
von jeher gepflegt worden war. So bricht zwar
mit der Gotik eine Überlieferungsreihe jäh und
fruchtlos ab, aber an ihrer Stelle taucht eine andere
auf, deren Wege bis dahin durchs Dunkel gegangen
waren, und nimmt das ganze Abendland auf Jahr-
hunderte hinaus ausschließlich in Besitz.

11(07. II. 1
 
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