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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 47.1897-1898

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Hagen, L.: Die stilvolle Wohnung
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https://doi.org/10.11588/diglit.7002#0075

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Die stilvolle Wohnung.

wird meistens so
bestellt, wie das
letzte Aleid, das
man bei Frau
Eommerzienrath
Schnitze zu bewun-
dern Gelegenheit
hatte. Nur ver-
schwindend wenige
Modedamen ha-
ben das Geheim-
niß der Aleidfam-
keit wahrhaft er-
gründet, nämlich,
nicht nur die Far-
be, sondern auch
Schnitt und Aus-
putz ihrer Persön-
lichkeit anzupassen.
Daß aber eineZim-
mereinrichtung
ihren Bewohnern
passen soll, wie ein
gutsitzendes Aleid,
ahnen kaum zwei
von je tausend ge-
bildeten deutschen
Frauen. Immer-
hin giebt es einige
solche Ausnahms-
geschöpfe. „Sie
trägtniemalseinen
put, der wirklich
ein put ist." „Ich
möchte sie gar
\o\. Gestickter Vorhang von Bild- nichtkennenlernen,
Hauer lj. Dbrist; ausgeführt von denn ich habe ihre
B. Ruch et. Wohnunggesehen.

Daraus weiß ich,

daß ihr Leben keinen Zweck hat." Beide Aeußerungen
■— sie stammen von jungen Mädchen, die niemals
kunstgewerbliche Zeitschriften gelesen haben — treffen
einigermaßen den Punkt, wo der pebel anzusetzen
ist, um eine thatkrästige Theilnahme des gebildeten
Mittelstandes an den Fortschritten des Aunstgewerbes
Zu erzielen. Denn dieser Mittelstand ist es ja ge-
rade, den: die Lehrmeister der Aesthetik fördernd an
die patid gehen müssen, wenn eine neue Volkskunst
erstehen soll. Der Mittelstand zieht in erster Linie
alles das an sich und nach sich, was in den empor-
strebenden Ständen wahrhaft gesund und lebens-
fähig ist. Gerade dem Mittelstände aber ist die
„stilvolle" Wohnung zum Verhängniß geworden,

weil sie dem Scheinwesen und der Täuschungs-
industrie Eingang in eben jene Areise gewährte,
deren gute Familientraditionen bis dahin an solidem,
wenn auch dürftig geschmücktem Pausrath gehangen
hatten. Seit der altdeutsche bric ä brac für stilvoll
gehalten wurde, hat sich das Alles geändert. Die
Einsichtigen haben es nicht so gewollt, aber sie ver-
mochten nicht, die Geister zu bannen, die sie in Un-
kenntniß der Verhältnisse gerufen hatten. „Ihre
Wohnung macht den Eindruck, als ob ihr Leben
keinen Zweck hätte" — das bleibt von zahllosen
stilvollen und auch stillosen Wohnungen wahr. Es
wird auch wohl immer unmöglich bleiben, Menschen,
die keinen Lebenszweck kennen, Wohnungseinricht-
ungen zu schaffen, die ein echtes Aünstlergemüth zu
befriedigen vermögen. Augenblicklich aber handelt
es sich darum, zu retten, was noch an gesunder
Ueberlieferung zu retten ist. Es gilt, dem Mittel-
stand begreiflich zu machen, daß man sich nur der-
jenigen Wohnungseinrichtung zu schämen braucht,
die nichts von unserm eigenen Seelenleben verräth,
nicht den Stempel unseres besonder» Wesens im
Unterschiede von dem Wesen unserer Nachbarn
trägt. Nicht nach „Stil" soll der Mittelstand jagen,
sondern er soll sich bemühen, Stimmungen zu
schaffen. Der Stil stellt sich dabei von selbst ein.

\02. Lckparthie aus der Vorhang-Stickerei von h. G brist (zu
Abb. gehörig); ausgeführt von B. Ruch et.

(etwa V5—*/4 der wirkl. Größe.)

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Jurist und Handwerk. 4?. Iahrg. Heft 2.

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