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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 47.1897-1898

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Schumacher, F.: John Ruskin. Der Apostel der modernen engl. Kunstbewegung
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>fjit Hiisfin.

typischen Unterschied von Bauten, deren Wirkung
vorwiegend in ihrer Masse und ihrer Silhouette liegt,
und von Bauten, die zu uns sprechen durch die fein-
sinnige Behandlung ihrer Formenwelt und ihres
Schmuckes; es ist der Unterschied zwischen ernst -archi-
tektonischer und heiter-ornamentaler Wirkung. Ruskin
sucht für beide das Verständniß zu wecken. Er preist
die Wirkung der großen Linie, der zu Liebe alles
andere zurückstehen muß, und gibt der Sehnsucht
unserer sorgsam zusammenstoppelnden Zeit nach jenen*
Tyklopengeist, der in Steinen träumt und mit Schatten-
massen kolorirt, beredten Ausdruck. Und wie das
immer seine Art ist, er klagt und sehnt nicht nur,
sondern er sucht praktische Vorschläge zu entwickeln,
um dem alten Geist wieder nahe zu kommen: er
zeigt die Wichtigkeit der Fugen für den Eindruck eines
Bauwerks, er betrachtet die Wirkungsnüancen, die
durch verschiedene Steinbehandlung erreicht werden;
er verlangt Fläche, er warnt vor dem allzu beliebten
Auflösen in Risalite, wo inan große Linien durch-
gehen lassen kann, kurz, ohne doktrinär zu werden,
zeigt er an Beispielen, die meist der Gothik des
fZ. Jahrhunderts, die Ruskin besonders bevorzugt,
entnommen sind, wo das Geheimniß der großen
Wirkung ruht.

Zn den sogenannten „Werken der Schönheit"
interessirt ihn vor Allem die Behandlung des Vrna-
ments, und hier ist der Punkt, wo er in erster Linie
reformatorisch gewirkt hat. Mit begeisterten Worten
predigt er die Rückkehr zur Natur, er weist auf die
unübertroffene ornamentale Wirkung der natürlichen
Pflanze hin und erörtert die Aompositionsarten, zu
der ihre Verwendung in der dekorativen Aunst führen
kann. Interessant sind dabei seine Ansichten über
Farbe, die er in weit umfangreicherer Weise in
unsere Alltagswelt eingeführt sehen möchte, als das
gewöhnlich geschieht; mit feinem Verständniß führt
er aus, daß die höchste Ausbildung von Form und
Farbe sich aus dem Wege geht und niemals parallel
geführt werden sollte. Starke koloristische Effekte
sind an möglichst einfachen Gestaltungen an* wirkungs-
vollsten, während die fein ausgebildete und kompli-
zirte Formenwelt nicht in ihrer Wirkung durch Farbe
gesteigert zu werden vermag. Das ist ein der Natur
abgelauschtes dekoratives Prinzip, das vielleicht un-
bewußt in der englischen kunstgewerblichen Entwick-
lung eine große Rolle spielt, wie denn alle diese
Anschauungen einen starken praktischen Widerhall
gesunden haben, vielleicht noch mehr übertragen auf
die dekorative Aunst als auf die Architektur.

In Ruskin's ganzem Wesen und in der Art,
wie er seine Ansichten hinstellt, liegt durch die echte

und reine Begeisterung, die daraus hervorstrahlt,
eine so eindringliche Macht der Propaganda, daß
wir den seltenen Fall wohl begreifen, daß ein Aunst-
schriftsteiler Schule macht. Und dieser Schule
gehört die Gegenwart.

William Morris war es, der mit der schier
übermenschlichen Thatkraft, die ihm innewohnte, sich
zum praktischen Träger der Ruskin'schen Ideen machte.
Mit jener Allseitigkeit, die ihn direkt neben die Uni-
versalgenies der italienischen Renaissance stellt, griff
er selber an allen Seiten mit gleich praktischem Sinne
zu und ermöglichte es Andern, mit ihm zu arbeiten.
Es entstanden jene berühmten Werkstätten, wo die
Schöpfer zugleich die ausführenden Meister waren,
wo unter seiner Leitung das Schaffen von Burne
Jones, Walter Trane, Ford Maddox Brown, Voysey
und vieler Anderer ganz neue, immer weitere Areise
ziehende Ansprüche an Geschmack und Technik ent-
wickelte. Die Glasinalerei, die Webekunst, Möbel-
tischlerei, Töpferei, Schmiedearbeit, Reproduktions-
verfahren und Buchdruckerkunst wurden in Muster-
leistungen zur höchsten Vollendung geführt und all'
diesen Werken, die heute schon den: Fluch nicht ent-
gehen können, daß ihre Eigenart von blöden Nach-
ahmern zur Aarrikatur verzerrt zu werden droht,
fühlt man es an, wie der schaffende Aünstler sein
Werk bewachte, bis es in der Wirklichkeit dastand
als wahrer Zeuge seines Geistes.

Wie Morris auch theoretisch die nationalökono-
mischen Ideen Ruskin's weiterführt, das zu verfolgen
würde hier zu weitläufig fein, interessirt es uns doch
vor Allein zu sehen, wie die gesunden Ideen Ruskin's
den Boden bereitet haben, auf dem dann die Pflanze
der neuen englischen Aunstbewegung gleichsam von
selber erwachsen mußte. Diesen Entwicklungsgang
sollten wir uns zum Muster nehmen, wenn wir ein
ähnliches Ziel erreichen wollen; wir müssen uns
hüten, bald hier bald da Stecklinge schöner fremder
Gewächse auf unseren unvorbereiteten Boden ver-
pflanzen zu wollen, und was etwa von selber ersprießt
auf unferm Feld, das müssen wir zu erziehen suchen
nach jenen gesunden Grundprinzipien, denen sich wohl
jede Aeußerung echter Individualität in der Aunst
ohne Weiteres anpaßt, nicht aber das Gekünstelte
und Bizarre.

Und wenn Ruskin's Werke auch in Deutschland
kein Lehrbuch werden mögen, so verdienen sie doch
bei uns eine größere Verbreitung, nicht nur wegen
ihrer historischen Bedeutung in einer für uns sehr
wichtigen Entwicklungskette, sondern vor Allem, weil
ein großdenkender und geistreicher Mann aus ihnen
mit ungewöhnlich klaren Augen herausblickt.

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