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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 12.1901

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Swarzenski, Georg: Eine neuentdeckte altchristliche Bilderhandschrift des Orients
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https://doi.org/10.11588/diglit.5772#0082

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Eine neuentdeckte altchristliche Bilderhandschrift des Orients.

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sie ist fein und sorgsam, ohne kleinlich zu werden.
Allerdings stehen wir in einer Zeit, wo die Hand-
schriftendekoration in den Händen eines handwerks-
mässigen Betriebes lag; aber wir sehen, dass der
Künstler noch mit Sicherheit und Geschmack seiner
Aufgabe gerecht wird und die Regeln der Kunst mit
Fleiss und Geschick zur Ausführung zu bringen ver-
steht. Hiermit ist gesagt, dass ein lebensvoller, inner-
licher Ausdruck des Affektes in der Physionomie nicht
zu seinen eigentlichen Interessen gehört. Alles ist
vielmehr in die Bewegung der Gestalten, in ihr äusser-
liches Verhältnis zueinander und in die Gebärden-
sprache verlegt. Aber in diesen Dingen erweist sich
der Künstler, oder vielmehr die Kunst, die er uns
vertritt, sehr leistungsfähig. Die Komposition ist stets
gut und oft vorzüglich (Blindenheilung und Herodias-
scene), die Gestikulation nie automatisch und zeugt
von natürlicher Beobachtung. Die Erzählung der
evangelischen Vorgänge vollzieht sich schlicht, einfach
und lebendig, ohne Übertreibung und ohne Dürftig-
keit. Keine allegorische und mythologische Gestalt,
keine der aufdringlichen psychischen Personifikationen,
ohne die sich Viele die Kunst der späten Antike und
besonders die des christlichen Ostens, dem die Hand-
schrift angehört, gar nicht denken können, stören das
einfach Vorgängliche der Handlung.

Das Verständnis für den menschlichen Körper ist
i. A. ein richtiges; die Proportionen sind normale;
als charakteristisch wäre die etwas eingezogene Haltung
der langen Köpfe auf dem etwas verwachsenen Halse
und das starke Herabfallen der Schultern zu betonen.
Den langsam schreitenden Figuren ist eine unsichere,
schräge Schwebestellung eigentümlich. Die Füsse
sind sehr zierlich und natürlich gestellt, die Hände
aber oft hölzern und gespreizt. Für den Typus ist
die Steilheit des Profils charakteristisch: die hohe
Stirn und die kräftige Nase bilden eine fast gerade
Linie. Der Mund wirkt klein und voll, die Augen
sind gross und treten durch die scharfe Eintragung
der Pupille in schwarz auf dem weiss gedeckten
Augenstern leuchtend hervor. Die malerische Art
der Karnation ist noch ganz antik, die Ausführung
der Gesichtszeichnung aber feiner und schärfer als
auf den abendländischen spätantik-altchristlichen Denk-
mälern. Die Gesamtform des Kopfes ist mehr eckig
als oval und wesentlich höher als breit. In den
Nebenfiguren herrscht die Bartlosigkeit vor; der
Typus Christi ist der eines Mannes im vorgeschrittenen,
mittleren Lebensalter mit vollem, langherabfallenden,
braunen Haar und Bart. Die Gewandbehandlüng
ist gut: ein einfaches natürliches Verhältnis zum
Körper ist erreicht, die Faltengebung vollzieht sich
in einem ruhigen, geradlinigen Charakter, doch bietet
die malerische Art der Modellierung wenig Ab-
wechslung. Unter den Farben herrscht in den Ge-
wändern bräunliches Gelb und Hellblau vor. Be-
zeichnend für die östliche Heimat der Handschrift ist
es, dass das Gewand Christi ausschliesslich in Gold
gegeben wird, mit einer feinen braunschwarzen Ein-
zeichnung der Falten. Dagegen findet sich nicht die
im Abendland beliebte Goldfältelung der farbigen

Gewänder. Charakteristisch ist die beliebte Ver-
zierung der Gewänder durch die Auflage kleiner
farbiger Kreisflächen, die sich ganz so im Rossanensis
findet.

Das künstlerische Interesse ist zunächst auf eine
Betrachtung der Komposition und Gestaltenbildung
beschränkt. Von eigentlich landschaftlichen Elementen
ist kaum zu reden. Die Figuren stehen auf dem-
selben Grunde der Seite wie die Schrift, ohne durch
eine Umrahmung von dieser getrennt zu werden und
ohne auch nur durch die Andeutung eines Terrains
einen Stützpunkt für die Füsse zu erhalten. Nur eine
feine horizontale Linie ist scharf eingezeichnet, um
das Niveau, auf dem die Figuren stehen, zu be-
stimmen. Die Architekturen sind in willkürlicher
Farbe und ohne ein perspektivisches Verhältnis in die
Bildfläche hineingesetzt; ihre Formen sind von denen
älterer und gleichzeitiger abendländischer Denkmäler
grundverschieden und stehen wiederum denen des
Rossanensis am nächsten. In der Form der Bäume
ist nur eine allgemeine Charakteristik mit den Mitteln
einer flüchtigen, impressionistischen Technik erstrebt.
Die Farbe der Wipfel ist ein merkwürdiges Blaugrün,
das aber vielleicht nicht Original ist, sondern erst
durch den chemischen Prozess eines Durchwachsens
der blauen Bestandteile im Grün seine jetzige Färbung
erhielt.

Bereits einer flüchtigen Betrachtung der uns hier
erhaltenen Gemälde kann es nicht verborgen bleiben,
dass uns in ihnen ein Denkmal erhalten ist, welches
denselben Kunstkreis repräsentiert, aus dem der Rossa-
nensis hervorgegangen ist. Die Verwandtschaft ist
eine so enge, dass wir über den Zufall nur staunen
können, der uns unter den so ganz wenigen Zeugen
dieser Kunstgattung aus einer mehrere Jahrhunderte
und das immense Gebiet der aus dem römischen
Universalreich entstandenen christlichen Kultur über-
spannenden Epoche gerade zwei Denkmäler bewahrt
hat, die unter sich so völlig übereinstimmen. Wir
brauchen uns über diesen Zufall nicht zu beklagen,
wenn es für unsere Erkenntnis vielleicht auch nütz-
licher wäre, aus einem anderen, bisher noch nicht
bekannten Kunstkreis ein Zeugnis zu erhalten. Aber
es ist doch ermutigend, durch den Fund dieser Hand-
schrift eine monumentale Bestätigung für die wissen-
schaftliche Berechtigung der Methode zu erhalten, auf
die wir bei dem lückenhaften und gewiss nur auf
Zufall beruhenden Bestand der uns überkommenen
Denkmäler notwendig angewiesen sind: dieselben
jedesmal — und wenn sie noch so allein stehen! —
als Zeugen einer Vielheit, einer bestimmten landschaft-
lichen und zeitlichen Tradition anzusehen.

Die enge Verwandtschaft des Pariser Matthäus-
Evangeliums mit dem Rossanensis ist eine schlagende
und bedarf kaum einer näheren Ausführung. Sie er-
streckt sich auf die Komposition, die Gruppenbildung,
auf die Auffassung der einzelnen menschlichen Ge-
stalt, ihre Bewegung, das Verhältnis der Gewandung
zum Körper und auf die Typen. Auf einige charakte-
ristische Einzelheiten, die beiden Handschriften ge-
meinsam sind, stiessen wir schon bei der allgemeinen
 
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