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Charakteristik. Auch der Typus Christi ist der
gleiche. Ferner treffen wir in beiden Handschriften
dieselbe Form des Kreuznimbus und auch die goldne
Gewandung des Heilandes ist beiden Denkmälern
gleichmässig eigentümlich, nur dass sie im Rossa-
nensis auf das Obergewand beschränkt bleibt, während
sie im Parisinus einheitlich für das ganze Kostüm
verwertet wird. Wie eng beide Handschriften zu
einander stehen, beweisen auch einige charakteristische
Typen der Nebenperson^::: der Typus des Apostels
links neben Christus in der wunderbaren Speisung
ist fast identisch mit dem des Johannes im Abend-
mahlsbilde des Rossanensis, der des Apostels rechts
stimmt mit dem des Petrus und des Andreas der ge-
nannten Scene in der verwandten Handschrift über-
ein. Vor allem aber finden wir in beiden Hand-
schriften jene ganz eigentümliche, bisher in dieser
Weise noch nicht wieder nachgewiesene Umrahmung
der Bilder aus dem Leben Christi mit Brustbildern
der Propheten, die über einem aufgerollten breiten
Schriftband, wie auf einer Brüstung, stehen, und unter
denen hier wie dort David, bekrönt und bartlos,
niemals fehlt. Im Rossanensis stehen diese Propheten-
bilder bekanntlich unterhalb der evangelischen Scene,
in unserer Handschrift sind sie stets in der Zweizahl
an die Seiten neben die erzählenden Bilder gestellt.
Diese hier vorliegende Art scheint mir eine ursprüng-
lichere zu sein.
Über das zeitliche Verhältnis der beiden Hand-
schriften ist ein bestimmtes Urteil allerdings nur
schwer zu gewinnen. Ohne auf Einzelheiten jetzt
bereits einzugehen, sei die allgemeine Bemerkung er-
laubt, dass einige Typen des Rossanensis der späteren
byzantinischen Kunst bereits näher kommen als die
des Parisinus, dass umgekehrt einige Typen dieser
Handschrift noch der Antike näher stehen als die des
Rossanensis. Jedenfalls ist die Verwandtschaft beider
Handschriften eine so enge, dass wir sie über die
Grenze einer Generation kaum auseinander rücken
dürfen. Auch ein Zweifel an ihrer landschaftlichen
Zusammengehörigkeit ist ausgeschlossen, und der
Fundort der neuen Pariser Handschrift kann die hier-
über geäusserten Vermutungen nur bestätigen.
Das wichtigste Ergebnis erhalten wir aber, wenn
wir beide Handschriften auf die allgemeine Art ihrer
illustrativen Anordnung, auf das Verhältnis ihrer
Illustrationen zum illustrierten Text hin betrachten.
Im Rossanensis ist uns ein, wie Haseloff trefflich aus-
geführt hat, nicht vollständiger evangelischer Cyklus
erhalten, der als solcher dem eigentlichen Texte
vorausgeht. Die einzelnen Darstellungen stehen auf
Vollblättern; er giebt Kodexillustration im eigent-
lichsten Sinne. Im Parisinus sind dagegen die ein-
zelnen Darstellungen in den Text hineinbezogen; sie
stehen unmittelbar unter dem Texte, der den bildlich
dargestellten Vorgang erzählt. Sie zeigen die Form
des schmalen nach der Breite disponierten Streifen-
bildes, das von dem Texte durch keinerlei Rahmung
oder besondere Grundierung getrennt ist: Rotulustyp.
Beide Handschriften, die, wie wir sehen, zweifellos
als Zeugen einer und derselben Schule und Epoche
anzusprechen sind, zeigen also bei völliger Gleichheit
des zu Grunde liegenden Textes bereits jene beiden
Arten der illustrativen Ausstattung, die wir während
des ganzen Mittelalters als die beiden einander gegen-
überstehenden Illustrationstypen liturgischer Bücher
verfolgen können: die eine schickt dem Texte einen
selbständigen, in sich geschlossenen Illustrationscyklus
voraus, die andere illustriert den erzählenden Text an
Ort und Stelle. Wir sehen somit, dass bereits in der
Zeit des Entstehens unserer Handschriften beide
Illustrationstypen in gleicher Geltung und in gleicher
Gegend nebeneinander bestanden. Der noch immer
vermissten Geschichte des evangelischen Bilderkreises
ist durch die Pariser Handschrift eine neue Grund-
lage von grösster Bedeutung gegeben.
Es liegt in der Natur der Sache, dass bei dem
im- Rossanensis vorliegenden, selbständigen Cyklus
der Künstler sich dem Berichte bald dieses, bald
jenes Evangeliums in der Art seiner Darstellung an-
schloss, und ebenso wundert es uns nicht, dass der
Bildschmuck des Parisinus einseitig und genau dem
Berichte des Matthäus, den seine Bilder (Herodias:
Matth. XIV, 1 f. Speisung: Matth. XIV, 14. f. XV, 32 f.
Blindenheilung: Matth. XX, 29 f. Verdorrter Feigen-
baum: Matth. XXI, 19 f.) illustrieren, folgt. Nur in
der Scene der Brotvermehrung fällt eine grössere
Freiheit auf, indem die beliebigen Jünger (ol ualhfink.
Matth. XIV, 15. XV, 35) neben Christus durch zwei
besonders charakterisierte ersetzt sind. Eine Beein-
flussung von Johs. VI, 5. 8. ist hier wohl anzunehmen,
da bei diesem Evangelisten im Unterschied zu allen
übrigen (Marc. VIII, 1 f. VI, 35 f. Luc. IX, 11) zwei
bestimmte Jünger, Philippus und Andreas, in be-
sonderem Verkehr mit Christus bei dieser Scene
erscheinen. Hiermit wäre erwiesen, was auch an sich
mehr als wahrscheinlich ist, dass der spezifische
Matthäus-Cyklus des Parisinus kein ganz originaler
ist. Dass der Illustrationstypus der Pariser Handschrift
als solcher älter ist als der des Rossanensis, ist wohl
kaum zu bezweifeln.
i Die allgemeine kunsthistorische Stellung der Hand-
schrift ist ja durch ihre enge stilistische Beziehung
zum Rossanensis genügend bestimmt. Es tritt hier-
durch ein bedeutender Komplex der ältesten Malerei
des christlichen Orients vor unser Auge, und wir er-
kennen wiederum, wie unmöglich es ist, die alt-
christliche Kunst in ihrer Gesamtheit als eine einheit-
liche anzusehen. Wie unterscheidet sich doch deut-
lich der Charakter dieser Denkmäler, denen wir bei
einer so allgemeinen Betrachtung noch die Wiener
Genesis an die Seite stellen dürfen, von den älteren
Arbeiten des Abendlandes, dem Virgil der Vaticana
(3225) oder den Quedlinburger Italafragmenten in
Berlin! Wie unterscheidet er sich aber auch von
einem fast gleichzeitigen, eigentlich byzantinischen
Denkmal, wie dem Wiener Dioskorides! Was hier
als gemeinsam empfunden werden kann, wird kaum
etwas anderes sein als die gewissen Erbstücke der
antiken Tradition, mit denen im ganzen aber doch
eben selbständig geschaltet und nach bestimmten
individuellen Modifikationen hin gewirtschaftet sein
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Charakteristik. Auch der Typus Christi ist der
gleiche. Ferner treffen wir in beiden Handschriften
dieselbe Form des Kreuznimbus und auch die goldne
Gewandung des Heilandes ist beiden Denkmälern
gleichmässig eigentümlich, nur dass sie im Rossa-
nensis auf das Obergewand beschränkt bleibt, während
sie im Parisinus einheitlich für das ganze Kostüm
verwertet wird. Wie eng beide Handschriften zu
einander stehen, beweisen auch einige charakteristische
Typen der Nebenperson^::: der Typus des Apostels
links neben Christus in der wunderbaren Speisung
ist fast identisch mit dem des Johannes im Abend-
mahlsbilde des Rossanensis, der des Apostels rechts
stimmt mit dem des Petrus und des Andreas der ge-
nannten Scene in der verwandten Handschrift über-
ein. Vor allem aber finden wir in beiden Hand-
schriften jene ganz eigentümliche, bisher in dieser
Weise noch nicht wieder nachgewiesene Umrahmung
der Bilder aus dem Leben Christi mit Brustbildern
der Propheten, die über einem aufgerollten breiten
Schriftband, wie auf einer Brüstung, stehen, und unter
denen hier wie dort David, bekrönt und bartlos,
niemals fehlt. Im Rossanensis stehen diese Propheten-
bilder bekanntlich unterhalb der evangelischen Scene,
in unserer Handschrift sind sie stets in der Zweizahl
an die Seiten neben die erzählenden Bilder gestellt.
Diese hier vorliegende Art scheint mir eine ursprüng-
lichere zu sein.
Über das zeitliche Verhältnis der beiden Hand-
schriften ist ein bestimmtes Urteil allerdings nur
schwer zu gewinnen. Ohne auf Einzelheiten jetzt
bereits einzugehen, sei die allgemeine Bemerkung er-
laubt, dass einige Typen des Rossanensis der späteren
byzantinischen Kunst bereits näher kommen als die
des Parisinus, dass umgekehrt einige Typen dieser
Handschrift noch der Antike näher stehen als die des
Rossanensis. Jedenfalls ist die Verwandtschaft beider
Handschriften eine so enge, dass wir sie über die
Grenze einer Generation kaum auseinander rücken
dürfen. Auch ein Zweifel an ihrer landschaftlichen
Zusammengehörigkeit ist ausgeschlossen, und der
Fundort der neuen Pariser Handschrift kann die hier-
über geäusserten Vermutungen nur bestätigen.
Das wichtigste Ergebnis erhalten wir aber, wenn
wir beide Handschriften auf die allgemeine Art ihrer
illustrativen Anordnung, auf das Verhältnis ihrer
Illustrationen zum illustrierten Text hin betrachten.
Im Rossanensis ist uns ein, wie Haseloff trefflich aus-
geführt hat, nicht vollständiger evangelischer Cyklus
erhalten, der als solcher dem eigentlichen Texte
vorausgeht. Die einzelnen Darstellungen stehen auf
Vollblättern; er giebt Kodexillustration im eigent-
lichsten Sinne. Im Parisinus sind dagegen die ein-
zelnen Darstellungen in den Text hineinbezogen; sie
stehen unmittelbar unter dem Texte, der den bildlich
dargestellten Vorgang erzählt. Sie zeigen die Form
des schmalen nach der Breite disponierten Streifen-
bildes, das von dem Texte durch keinerlei Rahmung
oder besondere Grundierung getrennt ist: Rotulustyp.
Beide Handschriften, die, wie wir sehen, zweifellos
als Zeugen einer und derselben Schule und Epoche
anzusprechen sind, zeigen also bei völliger Gleichheit
des zu Grunde liegenden Textes bereits jene beiden
Arten der illustrativen Ausstattung, die wir während
des ganzen Mittelalters als die beiden einander gegen-
überstehenden Illustrationstypen liturgischer Bücher
verfolgen können: die eine schickt dem Texte einen
selbständigen, in sich geschlossenen Illustrationscyklus
voraus, die andere illustriert den erzählenden Text an
Ort und Stelle. Wir sehen somit, dass bereits in der
Zeit des Entstehens unserer Handschriften beide
Illustrationstypen in gleicher Geltung und in gleicher
Gegend nebeneinander bestanden. Der noch immer
vermissten Geschichte des evangelischen Bilderkreises
ist durch die Pariser Handschrift eine neue Grund-
lage von grösster Bedeutung gegeben.
Es liegt in der Natur der Sache, dass bei dem
im- Rossanensis vorliegenden, selbständigen Cyklus
der Künstler sich dem Berichte bald dieses, bald
jenes Evangeliums in der Art seiner Darstellung an-
schloss, und ebenso wundert es uns nicht, dass der
Bildschmuck des Parisinus einseitig und genau dem
Berichte des Matthäus, den seine Bilder (Herodias:
Matth. XIV, 1 f. Speisung: Matth. XIV, 14. f. XV, 32 f.
Blindenheilung: Matth. XX, 29 f. Verdorrter Feigen-
baum: Matth. XXI, 19 f.) illustrieren, folgt. Nur in
der Scene der Brotvermehrung fällt eine grössere
Freiheit auf, indem die beliebigen Jünger (ol ualhfink.
Matth. XIV, 15. XV, 35) neben Christus durch zwei
besonders charakterisierte ersetzt sind. Eine Beein-
flussung von Johs. VI, 5. 8. ist hier wohl anzunehmen,
da bei diesem Evangelisten im Unterschied zu allen
übrigen (Marc. VIII, 1 f. VI, 35 f. Luc. IX, 11) zwei
bestimmte Jünger, Philippus und Andreas, in be-
sonderem Verkehr mit Christus bei dieser Scene
erscheinen. Hiermit wäre erwiesen, was auch an sich
mehr als wahrscheinlich ist, dass der spezifische
Matthäus-Cyklus des Parisinus kein ganz originaler
ist. Dass der Illustrationstypus der Pariser Handschrift
als solcher älter ist als der des Rossanensis, ist wohl
kaum zu bezweifeln.
i Die allgemeine kunsthistorische Stellung der Hand-
schrift ist ja durch ihre enge stilistische Beziehung
zum Rossanensis genügend bestimmt. Es tritt hier-
durch ein bedeutender Komplex der ältesten Malerei
des christlichen Orients vor unser Auge, und wir er-
kennen wiederum, wie unmöglich es ist, die alt-
christliche Kunst in ihrer Gesamtheit als eine einheit-
liche anzusehen. Wie unterscheidet sich doch deut-
lich der Charakter dieser Denkmäler, denen wir bei
einer so allgemeinen Betrachtung noch die Wiener
Genesis an die Seite stellen dürfen, von den älteren
Arbeiten des Abendlandes, dem Virgil der Vaticana
(3225) oder den Quedlinburger Italafragmenten in
Berlin! Wie unterscheidet er sich aber auch von
einem fast gleichzeitigen, eigentlich byzantinischen
Denkmal, wie dem Wiener Dioskorides! Was hier
als gemeinsam empfunden werden kann, wird kaum
etwas anderes sein als die gewissen Erbstücke der
antiken Tradition, mit denen im ganzen aber doch
eben selbständig geschaltet und nach bestimmten
individuellen Modifikationen hin gewirtschaftet sein