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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 12.1901

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Schleinitz, Otto von: Sizeranne's Werk über zeitgenössische englische Malerei
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https://doi.org/10.11588/diglit.5772#0123

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Sizeranne's Werk über zeitgenössische englische Malerei.

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christlicher Kunst. Die hier wiedergegebenen Ge-
mälde Der Schatten des Todes« und »Christus unter
den Schriftgelehrten« konnten kaum besser ausgewählt
werden zur Erläuterung seiner Kunstentfaltung. Die
beiden grössten Wünsche seines Lebens hält er für
erfüllt: Der Präraphaelismus ist Sieger geblieben,
und Christus ist wieder auferstanden. Viel bewundert,
aber auch scharf kritisiert wird eins seiner letzten
Werke: »The Miracle of sacred fire in the church
of the Sepulchre at Jerusalem«. Während türkische
Soldaten die verschiedenen christlichen Pilger in der
Kirche in Ordnung halten, bricht das erwartete Feuer
in wunderbarer Weise auf dem Altar hervor. Als
letzter der streitbaren Kämpfer von der präraphae-
litischen Schule ist Holman Hunt stehen geblieben.

Sizeranne sieht zweifellos in Leighton den Ver-
treter der akademischen Kunst, und die höchsten
Leistungen Millais' erblickt er im »Genre«. Wenn
die beiden bezüglichen Kapitel aufeinander folgten,
statt durch ein solches über Alma-Tadema unter-
brochen zu werden, würde der Entwicklungsgang
der englischen Kunst sich leichter haben nachweisen
lassen. • Die Kritik an und für sich ist indessen ebenso
zutreffend wie glänzend durchgeführt. Der Einfluss
Leighton's auf die englische Kunst liegt weniger in
dem, was er als ausübender Künstler leistete, sondern
in seiner Lehrthätigkeit und in seiner Machtfülle als
Präsident der Akademie, sowie endlich in dem Ein-
fluss, den er seiner Persönlichkeit und bedeutenden
sozialen Stellung verdankte. Trotzdem der nachmalige
Präsident der Akademie seine ersten Studien in Deutsch-
land absolviert hatte, war er kein besonderer Freund
unserer Kunst.

Millais ist selbstverständlich ein erster Künstler
und durchaus zutreffend vom Autor geschildert. Er
repräsentiert am besten und sichersten den englischen
Geschmack und die nationale Schule. Da er durch
und durch Engländer war, so konnte er sich alles
erlauben. Er ist der wirkliche Volksmaler Englands,
obgleich er sich von dem Ideal, wie es früher in
englischen Büchern exponiert wurde, vollständig ent-
fernt. Gleichzeitig aber mit den hier ausgesprochenen
Ansichten versetzt der Autor sowohl Millais wie der
englischen Kunst einige satyrische Hiebe, wenn er
von ersterem schreibt: »Seine ganze Laufbahn kann
man historisch und ästhetisch mit den Worten er-
klären: »Von Ruskin zu Pear's Soap«. Einsseiner
populärsten Bilder ist nämlich »Seifenblasen«, das er
als Reklame für den grossen Seifenfabrikanten Pear
anfertigte. Zum zweiten Punkt ist nicht minder in-
teressant auf Seite 145 folgende Stelle zu lesen:
>Derselbe Mensch (Millais), der in England einen
solchen Enthusiasmus hervorgerufen hat, ist, ästhetisch
genommen, der wenigst englische Maler im ganzen
Lande. Der populärste unter allen Malern jenseits
des Kanals ist gerade derjenige unter ihnen, der den
französischen Ideen über Kunst am nächsten kommt.«
Schliesslich möchte ich noch eine ebenso bezeichnende,
wie in London oft gehörte Redensart wiederholen:
»Wenn Millais Engel gemalt hätte, wüssten wir heute,
wie sie wirklich aussehen.« Sein Bild »The Boyhood of

Raleigh« wurde dieser Tage für ca. 105000 Mark von
Mrs. Täte angekauft, die es, einem Wunsche ihres ver-
storbenen Gatten gemäss, der sogenannten »Täte
Gallery« schenkte.

Da Poynter's Erstlingswerke eine präraphaelitische
Note in sich tragen, dieser ausserdem mit Leighton
und Millais befreundet war und letzterem als Präsident
der Akademie folgte, so würde es sicherlich eine
hübsche Aufgabe für einen so brillanten Kritiker wie
Sizeranne gewesen sein, auch jenem ein eigenes Kapitel
zu widmen. Dann wäre es dem entfernter stehenden
Publikum ermöglicht worden, einen tieferen Einblick
in die Wechselbeziehungen dieser drei Freunde zu ge-
winnen und Aufklärung darüber zu erhalten, in welcher
Weise sie sich gegenseitig förderten. Ihr ausgesprochen
erstes und letztes Ziel ist die Hebung der nationalen, der
modernen englischen Kunst! Wer möchte ihnen das
verargen! Für uns ist es insofern bedauerlich, weil
kein ausländischer moderner Künstler irgend eine Aus-
sicht besitzt, dass ein Werk von ihm in einem staat-
lichen Institute Londons Unterkunft finden kann! Die
»National Gallery in Trafalgar Square schliesst jetzt
ab mit den Werken des grossen Dreigestirns: Rey-
nolds, Gainsborough und Romney, der Rest der
modernen Werke dieser Galerie wurde an die neue
»Täte Gallery« abgegeben, und letztere nimmt nur
moderne Arbeiten britischer Künstler auf! Sir E. Poynter,
der diese Massregel durchgeführt hat, bekleidet das Amt
als Präsident der königlichen Akademie, ferner als
Direktor der alten »National Gallery«, ausserdem ist
ihm die Oberaufsicht über die »Täte Gallery« über-
tragen und endlich ist er selbst ein sehr einflussreicher,
ausübender Maler. Man ersieht hieraus sofort, dass
noch niemals eine solche Machtfülle in Bezug auf
Kunstangelegenheiten Englands in einer einzigen Person
vereinigt worden war.

Sizeranne weist im 4. Kapitel Alma-Tadema »Die
Geschichte« und Hubert Herkomer im 6. Kapitel »Das
Porträt« zu. Der Autor vertritt in zwei geistreichen
Studien über diese beiden Meister den Standpunkt,
dass sie englische Kunst repräsentieren. Mehrere ein-
flussreiche englische Stimmen pflichten dieser Ansicht
nur zögernd, andere aber ganz entschieden gar nicht
bei.1) Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muss ich
bekennen, dass auch ich in diesem Falle die Ansicht
des französischen Autors nicht teile. Im übrigen aber
sind gerade diese beiden Essays in einer unübertrefflich
gelungenen Form und in einer so feinen und diskreten
Weise gemeisselt, dass sie sich den besten Erzeugnissen
der französischen Kunstlitteratur an die Seite zu stellen
vermögen. Mehr Nachdruck hätte auf die Zeit gelegt
werden müssen, in der Alma-Tadema noch die Epoche
der Merowinger illustrierte. Dies konnte Sizeranne
aber wohl nicht thun, denn sonst wäre an Alma-
Tadema gar nichts Englisches übrig geblieben. Heute
malt der Künstler römische und griechische Sujets,
aber diese sind meiner Meinung nach weder histo-
rische Bilder im eigentlichen Sinne, noch repräsentieren
sie englische Kunst.

1) »Times«. 25. Juni 1898.
 
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