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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 12.1901

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Schölermann, Wilhelm: Ältere und neuere Kunst in Hamburg, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.5772#0186

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355

Altere und neuere Kunst in Hamburg.

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land werden könnte, wenn man, ganz abgesehen von
irgendwelcher Tendenz, Richtung oder Schule, die
richtigen Lehren und Schlüsse aus dieser organisato-
rischen Thätigkeit einzelner Männer ziehen und auf
unsere allgemeinen Kunstverhältnisse anwenden würde.
In aller Ruhe und mit zielbewusster Beharrlichkeit
ist hier ein Stück Nationalkultur im besten Sinne ans
Tageslicht gefördert worden, welches für die Kultur
als solche, wie für diejenigen, welche sie gehoben
und der Vergessenheit entrissen haben, ein gleich
ehrendes Zeugnis ausstellt. An dieser Kulturarbeit
waren nach und nach verschiedene Faktoren beteiligt,
ausser den bei den berufenen Führern, deren Wirk- I
samkeit als Direktoren der Hamburger Kunsthalle und
des Museums für Kunst und Gewerbe bekannt und
anerkannt genug ist, um auf ihre Verdienste noch
an dieser Stelle hinweisen zu müssen. Angeregt durch
diese von historischem Wissen gesättigten und dabei
voll im Leben der Gegenwart stehenden Männer hat
namentlich in jüngster Zeit der bürgerliche Gemein- |
sinn und die Opferwilligkeit mehrerer älterer Harn- j
burger Kunstliebhaber die einheimischen öffentlichen 1
Sammlungen mit einer Reihe von Stiftungen und
einzelnen Zuwendungen bedacht, welche den Wert
dieser öffentlichen Museen um manche »Impondera- i
bilien« aus älterer und neuerer Zeit erhöht haben.

Sie eingehend nach allen Seiten zu würdigen, ist
im Rahmen eines knappgefassten Überblickes nicht
möglich. Das Material ist schon viel zu reichhaltig
an Inhalt und Bedeutung, wenn auch noch nicht an
Zahl der Kunstdokumente, aus denen ich heute nur
den einen oder andern Folianten aufschlagen und im
Vorübergehen kurz beleuchten möchte, sofern er mir
auf meinem Rundgang aufgefallen ist.

Zwei alte Hamburger Maler, deren Namen fast
gleich lauten, Franciscus Franck und Meister Francke,
ragen aus ihrer Umgebung hervor. Zeitlich sind sie
um ein Jahrhundert getrennt. Francke ist der ältere; |
er steht noch mit seinem ganzen Empfinden in der |
Spätgotik, die aber das Aufgehen einer neuen Schön-
heit schon ahnt (1424), während sie im leidenschaftlich
erregten Gefühlsleben, im Physisch-Schmerzvollen das
grosse Leidensmotiv unaufhörlich variiert und kolo-
ristisch vertieft, gleichsam umgoldet von dem warmen
Farbenschimmer des Orients, den die westlichen Ger-
manen während der heissen Kampfzeit der Kreuzzüge
mit erregten Gemütern empfangen und aufgenommen
hatten, so dass es in ihren begabtesten Malern noch
lange, wenn auch vielleicht unbewusst, nachklingt.
Francke ist so ein leidenschaftlicher Kolorist, während
der spätere Franciscus Franck, bereits ein klar bewusster
Renaissancekünstler, die Lust am menschlichen Leibe
in jeder Bewegung und Biegung der Gelenke, im
stolzen Aufbau der Komposition erkennen lässt, dabei
von einer herben Gebundenheit und Männlichkeit.
Das Bild, eine Kreuztragung, wurde aus einer Kirche
in ehrwürdiger Nacht ans Tageslicht gebracht. Die
Sanct Petrikirche hat es leihweise der Kunsthalle über-
lassen. Die Erhaltung des Bildes ist in jeder Hin-
sicht tadellos und es hat Qualitäten von ganz ausser- j
gewöhnlicher Tüchtigkeit und Grösse. Vom Geiste

»Hübsch' Martins« von Colmar ist in dem zeichne-
rischen Aufbau des Ganzen ein Hauch zu verspüren,
aber alles dabei mit selbständiger Kraft verarbeitet.

Die bis jetzt erreichbaren, ziemlich spärlichen
Daten über den »Spätgotiker' Meister Francke hat der
Kunsthallendirektor gesammelt und im Selbstverlag
der Kunsthalle herausgegeben. »Entdeckt« wurde der
Künstler im Jahre 1890 ebenfalls in der Sanct Petri-
kirche an der Südwand des Chors. Der Zufall
brachte das letzte Werk des Meisters zuerst wieder
ans Tageslicht. Dann kamen andere zum Vorschein
im Schweriner Museum, die vorher fast unbeachtet
geblieben waren. Zusammengestellt gaben sie einen
wichtigen Teil der Lebensarbeit und ermöglichten
geschichtliche Überblicke und Feststellungen von be-
deutender Tragweite. Sie eröffneten den Blick in
eine starke selbständige Kulturenclave mit deutlichen
breiten Umrissen. Eine »Seefahrerkultur". Das Haupt-
werk Francke's ist nämlich der grosse Flügelaltar
der »Hamburger Englandsfahrer«, ein in neun Bildern
erhaltenes historisches Dokument, das wohl geeignet
ist, das Urteil Wilhelm Bode's zu bekräftigen, dass
Hamburg von jeher der Hauptsitz der norddeutschen
Malerei« gewesen sein muss. Die Hamburger Eng-
landsfahrer waren eine geistliche Brüderschaft, die
wahrscheinlich um 1380 herum gegründet sein
mochte, im Besitz eines beträchtlichen Reichtums
und einer eigenen Kapelle als Bet- und Grabstätte
war, welche durch den Francke'schen Altar ge-
schmückt war. Es war eine jener zahlreichen Brüder-
schaften, die das Geistliche mit dem Weltlichen har-
monisch zu vereinigen versuchten, eine Art geistlicher
Versorgungs- und Versicherungsgesellschaft, die neben
der Sorge für das Messopfer eine ständige Armen-
pflege und eine stramme Organisation des Handels
und Arbeitsbetriebes verfolgte, in richtiger Würdigung
des Irdischen und weiser Fürsorge für die Zukunft
der Seele. Durch ihren Verkehr mit England hatten
die Englandsfahrer den damals grössten und modern-
sten Heiligen des englischen Volkes kennen gelernt
und zu ihrem Schutzpatron erwählt: den Heiligen
Thomas von Canterbury.

In dem Archiv dieser Brüderschaft befindet sich
ein stattlicher Foliant, welchen im Jahre 1541 der
Bauvorsteher Peter Hestenbarch angelegt hat. Darin
finden wir nach der etwas umständlichen Vorrede
folgende Notiz über den Kaufkontrakt mit dem Ham-
burger Meister:

. . . »uppgerichtet anno 1424 des mandaghes
vor sunte Niclawes dorch de ersamen unde vor-
sichtighen Borcherth Beunyn unde Matthyas Schyp-
houwer, olderlude der Enghelandesvarer gezelschopp,
myth mester Francken umme eyne Taffell, de noch
huthiges dages stath tho sunte Johannes in der
Enghelandesvarer Capellen in der sudher syden,
welcher taffell üngheverlick ghekosteth hebbe
hunderth marck Lubesch ... —«
Der Silberwert der Lübischen Münze war um 1424
viermal so hoch, als der der späteren Hamburger
Courant-Mark. Auf eine bisher noch nicht aufge-
klärte Weise tauchte dieser Thomasaltar im Jahre
 
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