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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 20.1909

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Gronau, Georg: Neue Dokumente zur Jugendgeschichte Raffaels
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https://doi.org/10.11588/diglit.5951#0082

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Neue Dokumente zur Jugendgeschichte Raffaels

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und Lanzi haben uns sorgfältige Beschreibungen da-
von hinterlassen. Man sah in einer Art von Tempel
den Heiligen, mit beiden Füßen auf einem Luzifer
darstellenden Dämon, rechts und links je zwei Engel
mit Spruchbändern in der Hand. Maria und Augu-
stinus (und Nikolaus von Bari nach Pungileoni1), der
die beiden zuvor genannten Figuren auf einer Seite
befindlich erwähnt), Halbfiguren in Wolken, hielten
Kronen bereit, ihn zu empfangen; oben in der Mitte
sah man Gottvater, umgeben von Engelsköpfen.

Das Werk blieb bis 1789 an Ort und Stelle und
wurde damals an Papst Pius VI. verkauft, in dessen
Auftrag der Maler Ponfreni die gut erhaltenen Stücke
herausschnitt und daraus mehrere kleine Bilder her-
stellte. Diese sind leider im Laufe der französischen
Herrschaft aus dem Vatikan verschwunden und bis
zur Gegenwart nicht wieder aufgetaucht. So sind
wir denn zur Rekonstruktion auf den Entwurf der
ganzen Komposition angewiesen, der sich in Lille be-
findet (mit Detailentwürfen auf der Rückseite), und
den Morelli bestimmt für Pinturicchio in Anspruch
genommen hat2). Außerdem besitzen wir eine in
der Raffael-Literatur so gut wie nicht berücksich-
tigte Kopie des unteren Stückes, 1791 von Costan-
tini gemalt, jetzt in der Stadtgalerie zu Cittä di Castello;
hier fällt die Ungleichheit der Komposition auf, daß
links nur ein Engel (wie auf der Zeichnung in Lille)
zu sehen ist, rechts dagegen zwei8).

Durch den Verlust dieses Bildes sind wir eines
jetzt doppelt wertvollen Werkes beraubt worden,
doppelt wertvoll deshalb, weil wir hier den Stil des
siebzehnjährigen Meisters studieren könnten und
sichere Anhaltspunkte zur Datierung gewisser Früh-
bilder gewinnen würden, die bisher den Gegenstand
wissenschaftliches Streites gebildet haben.

Sehen wir aber hiervon ab und suchen den
Dokumenten zu entnehmen, was sie uns Tatsächliches
lehren, so wird unser Interesse zuerst durch die
Person des Malers rege gemacht, der neben Raffael
beim Abschluß des Kontrakts und dem Empfang des
Geldes erscheint: Evangelista aus Pian di Meleto. Es
ist kein Name von großem Klang; man sucht ihn ver-
gebens in dem allumfassenden Buch, nach dem wir
gewohnt sind zuerst zu greifen: Crowe und Caval-
caselles Geschichte der italienischen Malerei.

Erst die neuere Forschung hat ihm einige Auf-
merksamkeit geschenkt; was wir von dem Maler
wissen, verdanken wir den Untersuchungen von
Schmarsow*), Alippi8) und namentlich Scatassa6).
Danach war Evangelista bereits 1483 in der Werk-
statt des Giovanni Santi (»famulus Joannis Sanctis

1) Elogio Storico di Raffaello, S. 36.

2) Galerie zu Berlin, S. 365; Abb. S. 367.

3) Man findet eine Abbildung in dem großen Werk
von Magherini Qraziani: L'arte ä Cittä di Castello. 1897,
Tafel LXX1V.

4) Gio. Santi, Berlin 1887, S. 96.

5) Nuova Rivista Misena IV, S. 51.

6) Rassegna bibliografica dell' arte italiana I, 197, IV,
193 und besonders VI, 110.

pictoris de Urbino«)1); und als Raffaels Vater am
27. Juli 1494 sein Testament dem Notar diktierte, war
unter den Zeugen wiederum Evangelista. Er stand
damals also noch in engen Beziehungen zu Giovanni
Santi. Sechs Jahre später finden wir nun abermals
seinen Namen und zwar neben demjenigen des jungen
Sohnes seines Lehrers.

Man hat sich oft die Frage nach dem Lehrer
Raffaels vorgelegt, d. h. nach demjenigen Manne,
unter dem er sich die technische Erfahrung erworben
hat. Daß ihm der Vater die Anfangsgründe beibrachte,
ist an sich das Wahrscheinlichste; aber bei seinem
Tode war Raffael ein Kind. Was ist natürlicher, als
daß die Sorge für den weiteren Unterricht — viel-
leicht durch Giovanni Santi selbst, als er sein Ende
nahe fühlte — demjenigen anvertraut wurde2), den
wir mehr als zehn Jahre hindurch als engvertrauten
Schüler Giovannis erweisen können! So hatte Fra
Filippo Lippi die Sorge für die künstlerische Aus-
bildung seines Sohnes Filippino dem Fra Diamante
übertragen. Daher erscheint, als der junge Meister
den ersten Flug ins Reich der Kunst unternimmt,
neben ihm eben der, der ihn das Fliegen gelehrt hat,
Evangelista.

Liest man weiter in den Dokumenten, deren
Kenntnis wir zumeist den Forschungen von Scatassa
verdanken, so findet man seinen Namen später (von
1515 ab) stets zusammen mit dem des Timoteo Viti.
Die beiden Maler haben offenbar das Malerhandwerk
in Kompagnie betrieben. Das dauert bis zum Tode
Vitis (1523); Evangelista übernimmt die Werke, die
jener nicht hat ausführen können, und fünfzehn Jahre
später arbeitet er mit Pietro Viti, Timoteos Sohn, in
derselben Weise zusammen, wie zuvor mit dem Vater.

Daß bereits zwischen 1494 und 1500 eine solche
geschäftlich-künstlerische Beziehung zwischen Evan-
gelista und Viti bestanden hat, läßt sich urkundlich
gegenwärtig nicht erweisen; aber die Tatsachen
scheinen sich überraschend klar zu ordnen, wenn
wir annehmen, daß der junge Raffael, von seinem
Vater der Obhut Evangelistas übergeben, in der
Werkstatt, die dieser mit Timoteo Viti gemeinsam
unterhält, in die bolognesisch-ferraresische Tradition,
deren Spuren man in seinen Jugendwerken gefunden
hat, eingeführt wird.

Hat diese Vermutung eine hohe innere Wahr-
scheinlichkeit, — ich betone, daß zum endgültigen
Schluß der Beweiskette einige Ringe fehlen — so
wird damit zur Tatsache, daß der junge Raffael seinen
ersten und entscheidenden Unterricht nicht in Perugia,
nicht durch Perugino oder Pinturicchio erhalten hat.

Wir wissen nicht, wann er die Vaterstadt verläßt.
Das Dokument vom 13. Mai 1500, betreffend den
gerichtlichen Vergleich mit der Stiefmutter, worin
Raffael als abwesend bezeichnet wird, beweist in
dieser Hinsicht nichts: das braucht nur zu bedeuten,
daß Raffael bei dem Gerichtsakt selbst nicht zugegen

1) Rass. bibl. IV, 197, vergl. Passavant, französ. Ausg. I,
42 Anm. 1.

2) Das hat wohl Springer schon vermutet: Raffael und
Michelangelo2, I., S. 58.
 
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