Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 20.1909

DOI Artikel:
Schleinitz, Otto von: Londoner Brief
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.5951#0130

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
243

Londoner Brief

244

Veränderungen haben sich in der Umtaufe der alten
italienischen Meister vollzogen und es können bei der
Fülle des betreffenden Materials nur einige Beispiele
vorgeführt werden. So fällt der Name Bramantino
in der Sammlung ganz fort, da das ihm bisher hier
zugeschriebene Bild »Mädchenkopf« (Nr. 537) jetzt
für Luini in Anspruch genommen wird. »Die Ver-
kündigung« (Nr. 536) wurde der Schule von Ferrara
statt der von Verona, und »St. Hieronymus sich selbst
kasteiend« (Nr. 543) nicht mehr einem Meister aus
Ferrara, sondern dem Benvenuto da Siena zugewiesen.
Derartige Vornahmen sind ja für die Spezialisten sehr
lehrreich und zeugen für den Mut der Wahrhaftigkeit
der Direktion, aber das große Publikum — wenn
auch mit Unrecht — beklagt sich über den Zwang
zum unausgesetzten Umlernen und fragt etwas skep-
tisch: Ist die jetzige Benennung auch endgültig die
letzte?

Einen höchst beachtenswerten und kunsthistorisch
wichtigen Anhalt für die Kenntnis und Beurteilung
alter, bisher weniger in den Vordergrund getretener
italienischer Meister gibt Dr. J. P. Richter in seinem
beschreibenden Katalog1) über die in der Villa Doccia
bei Fiesole Mr. H. W. Cannon gehörenden Oemälde.
So erhalten wir in diesem Werke vollständig neue
Aufschlüsse durch biographische Daten unterstützt
über eine Reihe von Künstlern, unter denen aus der
Schule von Verona Giolfino, C. F. Caroto, F. Torbido,
Tullio India, Paolo Fannato, Domenico Ricci (genannt
Brusascorci), hervorzuheben sind. Von venezianischen
Malern erfahren wir Neues über Alessandro und Pietro
Longhi, während aus verschiedenen anderen italieni-
schen Schulen des Quattrocento und später sehr be-
merkenswerte Angaben über Parentino, Benedetto
Diana, den Bolognesen Giuseppe Maria Crespi und
den Florentiner Pierin Buonaccorsi, genannt del Vaga,
vorliegen.

Der Schwerpunkt der letzten Londoner Herbst-
ausstellungen schien bei den alten Meistern zu
liegen. So ist zunächst eine solche bei der ameri-
kanischen Firma Knoedler & Co., die ihr hiesiges
Zweiggeschäft in Old Bond Street Nr. 15 besitzt, zu
erwähnen. Es waren allerdings nur 20 Gemälde, aber
jedes derselben barg, abgesehen von seinem hohen
künstlerischen Wert, eine eigene intime Geschichte
in sich selbst. Ungewöhnliche Anziehungskraft übte
ein bis vor kurzem ungekanntes Porträt der Königin
Marianna von Österreich, der zweiten Gemahlin
Philipps IV., aus, das Velasquez zugeschriebeu wird
und in Cadiz entdeckt wurde. Ob das Werk nun
wirklich dem Meister angehört, oder vielleicht von
seinem Schwiegersohn J. Bautista del Mazo herrührt,
mag dahingestellt bleiben, jedenfalls ist es ein hoch-
interessantes Bildnis. Die Pariser und Wiener Galerie
besitzen je ein authentisches Porträt der jungen Königin
von Velasquez, und zwar scheint es, als ob die Pariser
Version die Studie für letztgenanntes abgab. Ein
anderer Velasquez bildet eine Variante zu des Herzogs

1) J. Paul Richter: A descriptive Catalogue of old
Masters of the Italian School. Villa Doccia. Fiesole.
Florence. Bernardo Seeber.

von Wellington »Wasserträger von Sevilla«, ein Werk,
das von dem Künstler wahrscheinlich angefertigt wurde,
als er unter Pacheco arbeitete. Es gehört zu der
kleinen Gruppe von Gemälden ähnlichen Charakters,
die Professor Langton Douglas glücklich genug war
zu entdecken und von denen das aus Irland stammende
sich jetzt im Kaiser-Friedrich-Museum befindet, und
das andere bei Christie zum Vorschein kommende
nunmehr die National-Galerie in Budapest erworben
hat. Ein »Murillo« katalogisiertes Porträt eines »Ka-
valiers« ist ein schön modelliertes Bildnis, das sich
ehemals in der Leuchtenberg-Galerie in Petersburg
befand und im Stil an »Don Nicolas Omazurino«
in Dorchester House anklingt. Zu der italienischen
Schule übergehend ist ein Porträt des »Dogen Andrea
Gritti« zu erwähnen, das ungefähr 1523 von Tizian
gemalt sein soll, aber es besitzt weder die Weichheit
noch die Schönheit der Farbe jener Periode des
Meisters, wie sie z. B. in »Bacchus und Ariadne« in
der National Gallery zum Ausdruck gelangt. Jeden-
falls wurde es bedeutend früher hergestellt wie »Andrea
Gritti < in der Wiener Sammlung des Grafen Czernin,
ein Porträt, das die Londoner Version in der Haupt-
sache übertrifft. Endlich soll ein Werk von Guardi,
»Venedig von San Biagio gesehen«, nicht unbemerkt
bleiben. Von anderen Schulen ist ein vortrefflicher
Pater »Reunion dans un Parc« und eine Landschaft
Hobbemas hervorzuheben. Unter den altenglischen
Künstlern sind typische Werke von Reynolds, Gains-
borough, Romney und von Turner das prachtvolle
Gemälde »Mortlake Terrace«, sowie zwei von Hogarth
1744 datierte und bezeichnete Porträts von »William
James« und »Mrs. James« vorhanden, die bisher nicht
registriert sind. Zum Schluß möchte ich auf ein
reizendes, 1742 von Nattier gemaltes Bildnis von
»Madame Bonier de la Mosson« aufmerksam machen,
das seinerzeit zugleich mit »Mademoiselie de Cler-
mont« ausgestellt wurde und welches ebenso wie
jenes nun seinen Weg nach London, und zwar letzteres
nach der Wallace-Sammlung gefunden hat.

Die Wichtigkeit des Studiums von Originalskizzen
und Studien alter Meister für ihre demnächst anzu-
fertigenden Bilder, zum näheren Verständnis ihrer
Eigenart, ihrer Grammatik und künstlerischen Sprache,
wird täglich mehr anerkannt. Deshalb ist es mit
Dank zu begrüßen, daß die Firma Obach & Co. in
ihren Räumen bis zum Ende vorigen Jahres eine Samm-
lung solcher, von ersten Malern hergestellter Studien
zur Besichtigung geboten hatte. Wir fanden hier
Handzeichnungen und Entwürfe von Rembrandt
(Nr. 30 »Drei Figuren«), Flinck, van Dyck (»Die
Kiesgrube im Walde«), von den frühen Florentinern
und den meisten italienischen Schulen. So wurde das
15. Jahrhundert namentlich durch Perugino und Lo
Spagna gut repräsentiert. Zwei Werke von seltenster
Schönheit, aber mit unendlich verschiedenem Charakter,
bilden Francois Clouets exquisites Porträt von »Madame
de Vesigni« und Aart van der Neers »Sonnenunter-
gang am Fluß«. Eine Reihe hiesiger, jedenfalls noch
nicht im Stadium der Berühmtheit, geschweige denn
der Unsterblichkeit befindlicher jüngerer Künstler hat
 
Annotationen