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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,1.1901-1902

DOI Heft:
Heft 10 (2. Februarheft 1902)
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Bartels, Adolf: Wilhelm Hertz
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https://doi.org/10.11588/diglit.7613#0497

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hat er nach Jmmermann als Motto auf sein Werk gesetzt. Dennoch ist
gesnndc Sinnlichkeit in dem Werke, es zieht doch eben nur die Jugend
zur Jugcnd, und in der Einzelschilderung wird bei aller Glut das Maß
gewahrt. Vers und Diktion entstammen natürlich „Tristan und Jsolde',
und schon ist jenes wunderbare Fluten und Wallen der Verse bemerkbar, das
nicht dcn geringsten Reiz der Hertzschen Poesie bildet; doch ist bei aller Nach-
empfindung mittelalterlicher Dichtung das Einzelwerk im ganzen selbständig,
eigcner dichtcrischer Anschauung entsprungen, wohl auch realistischer als
das der mittelaltcrlichen Epen. Allerdings setzt ^Lanzelot und Ginevra"
voraus, daß man eine bestimmte Kenntnis von dicsen, ctwa vom ,Par-
zival" habe, aber nun Hertz auch diesen übersetzt hat, ist diese Kenntnis
ja leicht zu crlangen, und es bedeutet großen Genuß, die moderne Dich-
tung als Epilog gewisscrmaßen zu dem großen mittelalterlichen Wcrke
zu lesen. Die cpische Langeweile braucht man bei der Lektüre nicht
zu fürchtcn.

Ganz selbständig sind die beiden kleinen epischen Dichtungen ^Hug-
dietrichs Brautfahrt" und „Heinrich von Schwaben" — sie setzen nichts
voraus. Jn crstcrcm hat Hertz eines der deutschen volkstümlichen Spiel-
mannsepen bearbeitet, mit wahrer Meisterschaft, konzentrierend und in
modernem Sinne bclebend, so daß die Dichtung in ihrer Mischung von
zartester Schönhcit und gedämpftem Humor fast den Eindruck einer wun-
dervollen modernen Novelle macht. „Heinrich von Schwabcn", ,eine
deutsche Kaisersage" beruht, so vicl ich weiß, größtenteils auf eigener
Erfindung des Dichters und wächst auf dunkelm Grunde zu leuchtender
Klarheit empor, durchaus schlicht, aber auch durchaus lebensvoll, dabei
nicht ohne eine tiefsinnige Jdee. Man mag an die ganze Flut unserer
„Mären" und »Sänge', die den Ersolg eingeheimst haben und noch
heute zum Teil bei Männlein und Weiblein beliebt sind, garnicht denken,
wenn man diese gehaltvollen und bis zum letzten Vers gleichmäßig
poetisch gearbeiteten Dichtungen genicßt. Noch freier und kunstvollcr
ist dann Hertz' letztes ganz selbständiges Wcrk: das Klostermürchen
„Bruder Nausch". Was August Kopisch freudigen Angedcnkcns mit
seincn zahlreichen Schwänkcn von Heinzelmännchen u. s. w. in kleinster
Gattung fertig gebracht hatte, das lcistct Hcrtz hier im gröheren epischen
Gedicht, d. h. also, er gibt nicht nur eine trefflich erfundene Fabel, er
erzählt nicht nur mit wunderbarer Kunst, er durchdringt auch alles mit einer
Jdee und mit Jdecn und schafft aus dem lustigen Schwank so ein ernsthaftes
Wcltanschauungsbuch. Ja. es ist kcin Zweifel, dcr Dichter des .Bruders
Nausch" stcht auf der Seite des Heidentums oder doch auf der Seite
der Schönhcit und der Wcltbcjahung, aber mit dem klassizistischen Griechen-
tum oder mit dem, was beispielsweise Heine sein Hcllcncntum nannte,
odcr gar mit dem äußcrlichen Materialismus einer späteren Zeit hat
er gar nichts zu schaffen, es ist, wie gcsagt, cin germanisches Heidcn-
tum in Hertz, ein ganz individualistisches, das nicht bloß die Schönheit,
sondcrn auch den Humor liebt und für das klcinste und drolligste elbischc
Wesen genau so vicl oder noch mehr übrig hat, als für den strengst
stilisierten Gott. Und so kann dcnn auch ein ^CHristcnmensch" den
.Brudcr Nausch" mit ungcmischtem Vergnügcn lescn, wenn er nicht eben
ein unduldsamcr Fanatiker oder eine lcderne Seele ist.

2. Fcbruartzeft 1902
 
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