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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 21,3.1908

DOI issue:
Heft 13 (1. Aprilheft 1908)
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Avenarius, Ferdinan: Frau Wahrheit und Herr Klapperstorch: zu dem neuen Preisausschreiben des Dürerbundes
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https://doi.org/10.11588/diglit.7706#0013
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Zahrg.2! Erstes Aprilheft 1908 Hest I3
Frau Wahrheit und Herr Klapperstorch

Zu dem neuen Preisausschreiben des Dürerbundes.

die Kinder früh erfahren müssen, wie es mit der Entstehung
^7l)der Menschen zugehe, glaube ich gewiß. Wäre ein zuverlässiges
, Mittel da, sie in Ansehung dieses Punktes in gänzlicher Un°
wissenheit zu erhalten, es zu verhüten, daß sie die Begattung der
Tiere sähen, nie darüber nachdächten, nie durch Gespielen, Mägde,
Bediente und lüderliches Gesindel davon unterrichtet würden: so
würde ich mich weit behutsamer ausgedrückt und geraten haben, die
Aufklärung über diese Sache bis zu den Iahren der Mannbarkeit
zu versparen. Da es aber gar nicht vermieden werden kann, daß
Kinder nicht unvermutet hierüber eine der Unschuld ihres Herzens
sehr nachteilige Aufklärung bekommen, so kann man nicht anders,
als sie ihnen selbst auf so eine Art geben, daß dadurch ihre Unschuld
gesichert werde."

Das sind nicht verstiegene Meinungen eines Neuerers von heute,
es sind Worte Christian Gotthilf Salzmanns, des großen Pädagogen,
der schon fast vor einem Iahrhunderte gestorben ist. Widersprochen
worden ist ihnen niemals mit überzeugenden Gründen. Aber vor-
wärts gekommen sind wir seit Salzmanns Lebenszeit nicht, denn
des Gedankens, richtiger des Fühlens Blässe kränkelte hier immer
wieder ,die frische Wangenröte der Entschließung« an. Und so blieb
es dabei: wir mühten uns, Geschlecht nach Geschlecht, unsre Kinder
in all die großen und kleinen Schwierigkeiten des Erdenseins sorg-
sam einzuführen, aber die Tür zu seinem Allerheiligsten öffneten
wir ihnen nicht felber, die Tür, hinter der die von den Urvätern
zum Vater, vom Vater zum Sohne, vom Sohn über Enkel und
Enkelsenkel endlos zur Ewigkeit hin sich selbst weiterbildende Kette
lag, das Mysterium der Erneuerung. Davon zu sprechen, das über--
ließen wir — dem Zufall. Dem Zufall, und ob er an unsre Kinder
in der Gestalt lüsterner Diener oder verderbter Straßengenossen
herantrat. Dem Zufall, und ob er den Demanten bot, als wäre er
eine Glasscherbe aus dem Kot.

Den psychologischen Hauptgrund für diese dem ersten Blick kaum
begreifliche Tatsache hat Forel in dem Hineinlegen unsrer Gefühle,
der Gefühle von Erwachsenen, in das Kind gesehn. Dem Scham-
haften wird selbst ein Unrecht, zumal wenn es eine Unterlassungs-
sünde ist, nicht so schwer, wie ein Niederkämpfen seiner Schamhaftig-
keit. Es ist sehr erklärlich, daß wir gerade vor unsern Kindern in
sexuellen Dingen doppelt schamhaft sind, und sehr erklärlich, daß
wir gerade bei ihnen den unsern entsprechende Gefühle noch leichter
annehmen, als bei fremden Kindern. Aber sür das kleine Kind gibt
es ja noch keine geschlechtlichen Reize, und so haben wir's vielleicht
gerade darin verfehlt, daß wir mit der Aufklärung über diese Dinge
nicht schon im frühen Kindesalter begannen. Um schon da das
Wichtigste zu tun: durch edle und große Vorstellungen ebendieselben

^ 1. Aprilheft >M3 i s
 
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