Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 21,3.1908

DOI Heft:
Heft 15 (1. Maiheft 1908)
DOI Artikel:
Lose Blätter
DOI Artikel:
Rundschau
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7706#0199
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Mit einem Satz war Anton bei ihr, hatte ihr Handgelenk ergriffen
nnd mit eincr einzigen rohen Bewegung sie zur Erde gezwungen. Ein
Wunder, daß er ihr nicht den Arm zerbrochen.

Der Unselige vermutete eine absichtliche Verhöhnung seiner Liebe, und
so nnfaßbar ihm der Gedanke erschien, um so fürchterlicher deuchte ihm
der Verrat der zwei geliebtesten Wesen. Es gehörte die ganze Aber»
reizung seiner Sinne durch Wein, Aufregung und Zorneshitze dazu, um
auf eine so unglaubliche Vermutung zu verfallen. Nun lebte es auf in
ihm, das jähzornige, bis zur Besinnungslosigkeit erregbare Element, das
Erbteil seines Vaters.

Wo war der Anton, dessen Güte ein Kinder- und ein Mutterherz einst
dankbar segneten? Wo war er, der milde Helfer, der treue Freund, der
ernste, besonnene Arbeiter, der zärtlich Liebende?

Milly, nachdem der erste Schrecken vorbei, erhob sich ungestüm aus
ihrer knienden Lage und entriß sich mit aller Gewalt der umklammernden
Hand. Sie stand beim Tische. Ein Messer ergreifend, stellte sie sich
Anton gegenüber. Eine knrze, entsetzlich bange Pause, ein kurzes, kenchen--
des Ringen, nnd das Messer, das sie beschützen sollte — stak in ihrer
eigenen Brust.

Mit einem Schrei sank sie zu Boden. Ein Blick traf den wie geistes-
abwesenden, vor Schreck gelähmten Täter.

„O — Toni-!" hauchte sie noch. Der Stich hatte zu gut getroffen.

„Millh. Millh! O Gott! Millh, das hab' i net woll'n. . .«

Zu spät. An dem gedeckten Tische hatten fremde schaurige Gäste Platz
genommen nnd kredenzten sich die Gläser mit — Blut. Der Haß, der
Tod, die Verzweiflung, die Reue, sie stießen an, tranken sich zu und
nickten: Wohl bekomm's! Unsre Tafel wird stets gedeckt sein, solange
noch zwei Menschen sich den Raum streitig machen, zwei Herzen noch in
Leidenschaft schlagen. _

Rundschau

Zur Nietzsche-Tragikomö-
die*

n den Enthüllungen, die der
Prozeß „Nietzsche-Overbeck" ge-
bracht hat, finden die Zeitungen be-

* Dieser Beitrag stand schon in der
Druckform, als, überraschend spät, ein
Schreiben aus demNietzsche-Archiv an
die Blätter eintraf, welches in sehr
vorsichtiger Form bezweifelt, daß die
Mehrzahl jener Enthüllungen authen-
tisch sei. Wir unserseits sehen keinen
Grund zu solchen Zweifeln, werden
aber selbstverständlich den Lesern von
allem Mitteilung machen, was etwa
die Voraussetzungen zu Bonus' Wor-
ten tatsächlich nachträglich ändert. A

sondcrs erstaunlich, daß Frau Förster
so viele Iahre lang die Welt über ihr
Verhältnis zum Bruder getäuscht hat.

Dies ist gewiß auch erstaunlich. Vor
allem nämlich, daß dieWeltsich zwan-
zig Iahre lang so täuschen ließ! Daß
man zwanzig Iahre lang diese Ergüsse
aus dem „Nietzsche-Archiv" als aus-
gemachte Ereignisse behandelte.

Also ein unauslöschliches Gelächter
schallt durch die Welt. Schön; ich finde
nur, daß man jetzt kein Recht mehr zum
Lachen hat, man müßte denn über sich
selbst lachen. Man hätte lachen müssen,
als das Monstrum von Biographie er-
schien, in dem die ganze Anzureichend-
heit der Frau für ihre Aufgabe mit
Händen zu greifen war; in dem der sub-

s. Maiheft j<M

j63

Allgemeiverec
 
Annotationen