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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 21,3.1908

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Heft 13 (1. Aprilheft 1908)
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Spitteler, Carl: Aus der Werkstatt des Dichters
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Kalkschmidt, Eugen; Avenarius, Ferdinand: Mode und Reformtracht
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https://doi.org/10.11588/diglit.7706#0018
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längst mit der Arbeit fertig, ehe jener nachgeguckt hat. Und übsr-
haupt steht ja das Bewußte mit dem Anbewußten beim Künstler
immer im besten Einvernehmen, so daß keins dem andern schadet,
sondern vielmehr jedes dem andern geschwisterlich beisteht. Habe ich nicht
irgendwo schon einmal behauptet, der rasfinierteste Verstand und die
naivste Schöpferkraft könnten gar wohl in einem und demselben Ge-
hirnhause friedlich zusammenwohnen? Wenn ich das nicht schon
einmal behauptet habe, so behaupte ich's jetzt. Carl Spitteler

Mode rmd ReforMLrstcht

nser Mitredakteur Eugen Kalkschmidt hat in der „Frankfurter

? 8 Zeitung" einen kleinen Aufsatz „Die Mode" erscheinen lassen.
'^B-Eben, weil Kalkschmidt Mitredakteur des Kunstwarts ist, werden
viele Leser sagen: so denkt man also beim Kunstwart. Aber „man"
denkt da nicht ungeteilt so, sondern „man" ist da verschiedener Meinung.
Deshalb ist es wohl angebracht, wenn Kalkschmidt und ich an dieser
Stelle kurz unsre verschiedenen Standpunkte zeichnen. Kalkschmidt
also schreibt:

„In Knossos auf Kreta wurden vor wenigen Iahren ein paar
kleine weibliche Figuren aus Terrakotta ausgegraben, Gestalten von
merkwürdiger Pikanterie, beinahe mondän: mit hohem Kopfputz, stark
geschnürt und dekolletiert, bis zur vollkommenen Entblößung des
Busens; dazu ein enger bunter Rock in Falbeln und als besonderen
Schmuck Schlangen um die Hüften und Schlangen in den Händen.
Diese überaus zierlichen jungen Damen der Bronzezeit scheinen also
bereits um etwa 3000 v. Chr. eine Mode befolgt zu haben, die
von der unsrigen nicht weit entfernt ist. Sie haben sich geschnürt,
so gut sie es verstanden, sie haben sich vielleicht sogar, wenn wir
einem Freskogemälde der gleichen Zeit glauben dürfen, das Haar
gekräuselt und die Bedeutung der Nackenschleife im Kerne erfaßt.
Es ist also klar, daß diese naiven Naturmenschen ganz erstaunlich
verdorben waren, obwohl sie von der modernen Kultnr noch nichts
wußten. Ferner, daß die Mode der naturwidrigen, ungesunden
Frauentrachten doch ein höchst respektables Alter hat.

Können wir hoffen, dieser ganz unvernünftigen Madam je mit
reinen Vernunftgründen beizukommen? Werden wir sie der°
maßen reformieren, daß sie endlich, endlich das Normalgewand für
Weib und Mann als das einzig Wahre anerkennt? Man sollte
meinen, das müßte schon längst geschehen sein. Ebenso wie die
Kulturmenschheit das Zählen, Addieren und Dividieren, das Denken,
Schreiben, Tele- und Photographieren nach denselben logischen Grund-
gesetzen betreibt — so müsse sie auch für ihre Kleidung die Gesetze
der Logik und reinen Vernunft befolgen und sich mit Freuden in
irgend etwas Normales, Gesundes und Vernuuftgemäßes einhüllen.

Aber merkwürdig, die Vernunft versagt hier, und die Phantasie
herrscht. Sie herrschte schon zu einer Zeit, als es noch keine Pariser
Wodeberichte gab, und wird wohl auch weiter herrschen. Sie hat
nicht nur die historischen Kostüme, sondern auch unsre modernen
Ausgeburten geschaffen, und die Volkstrachten, die zum guten Teil

6 Kunstwart XXI,
 
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