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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 21,3.1908

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Heft 13 (1. Aprilheft 1908)
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Kalkschmidt, Eugen; Avenarius, Ferdinand: Mode und Reformtracht
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https://doi.org/10.11588/diglit.7706#0019
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recht unlogisch überladenen dazu. Unter diesem Gesichtswinkel er-
scheint auch die Reformbewegung für eine gesunde Frauentracht als
ein Versuch zu einer neuen Mode hin, und ich glaube, je mehr sie
»Mode wird«, desto besser für sie. Es ist ein Irrtum, anzuuehmen,
man könne die Mode aus der Welt schaffen. Man ka>rn sie auch
nicht eigentlich reformieren, kann fie nur ändern, wechseln, uud dieser
Wechsel ist auch hier das einzig Dauernde.

Und nun setze ich meiner Ketzerei die Krone auf und behaupte:
es kann Moden geben, die sehr normwidrig und dabei doch un-
gemein hübsch sind, kleidsamer als das sachlichste Normalkleid. Zum
Beweise schlage ich ein feiues kleines Sammelbuch auf, das kürzlich
erschienen ist: »D i e W o d e«. Menschen und Moden im IA- Iahr-
hundert; (8i8—(8-(2. Auswahl von O. Fischel, Text von M. v. Boehn
(München, Bruckmann). Also fünfundzwanzig Iahre Biedermeier in
Bild und Wort. Ist es die just modische Begeisterung für die Groß-
väterzeit, die mir dermaßen den Sinn verwirrt, daß ich aller sitt-
lichen Erzieherpflichten und überhaupt jedes normaleu Anstandes ver-
gesse und diese zweifellos geschnürten Frauengestalten mit Vergnügen
betrachte? Alle Reformer und Reformerinneu mögen mir verzeihen
oder mich steinigen — gleichviel: diese Miedertracht ist hübsch, diese
Stoffr sind, im Muster wie in den feinen Farben, allerliebst; diese
hüte mit den koketten bunten Bändern, diese Kreuzbaudschuhe stehen
deu Mädchcn und Frauen vorrrefflich. Es sind gezeichnete Mode-
bilder, teils von namenlosen, teils von namhaften Künstlern, also
Vorbilder für die damalige schöne Welt. Die mag ja in Wirklich-
keit sehr anders ausgesehen habeu. Aber jedenfalls wollte sie
so aussehen, wie Gavarni und seine Kollegen sie sahen. Aud sie
bewies keinen schlechten Geschmack dabei.

Was ist nun von diesem Bekenntnis eines Verworfenen zu halten?
Sollte es vielleicht auch hier zwei Seiten der Sache geben? Sollte
man sich historisch-ästhetisch gesallen lassen könneu, was man für die
Gegenwart hygienisch-ästhetisch-moralisch entschlossen ablehnt? Wie
kommt man aus solchem mörderischen Zwiespalt heraus? Ich bitte
ernsthaft darüber nachzudeuken.« Eugen Kalkschmidt

Nun, was mir auf diese Ausführungen zu sagen scheint. Und
zwar unter Ausschaltung der hier gleichgültigen Frage, ob die Terra-
kottafigürchen, von denen Kalkschmidt ausgeht, wirklich beinahe fünf-
tausend Iahre alt sind, und ob die Dämchen, die sie darstellen, irgend
etwas mit „Naturkindern« zu tun hatten, oder nicht vielmehr An°
gehörige einer recht dekadenten Zivilisation waren. Und auch unter
Ausschaltung von Kleinigkeiten, wie dsr, daß sich ja Bänderhüte und
Kreuzbandschuhe auch mit der Reformtracht aufs beste vertragen
könnten.

Ich muß zunächst gestehn: es ist mir nicht bewuszt, daß irgendeiner
von uns Reformtracht-Verteidigern jemals bestritten hat, daß alle
Moden, auch solche sehr „unlogischer" Natur, sehr feine ästhetische
Werte haben können. Es ist mir nur bewußt, daß wir Reformer
eine Grundlage der Tracht wünschten, die vernünftig sei, die des-
halb auch als Ausdruck von Vernünftigkeit erfreue und die doch

I b Aprilheft M8 ?^j
 
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