Aus Karl Adolphs ^Haus Nummer 37"
^Wer nicht, auf eine halbe Stnnde wenigstens, den Greueln des
Lebens fest ins Gesicht sehen kann, der lese die folgenden Seiten nicht,
nnd für nnreife Menschen und empfindliche Frauengemüter sind sie
schon gar nichts. Denn in dem Buche „Haus Nummer 37" von Karl
Adolph kommen Arbeitsscheu, Trunk und Lüderlichkeit, kommen Dieb--
stahl, Hehlerei, Betrug, Notzucht, Lotschlag und Mord nicht nur vor,
nein, sie füllen es zu drei Vierteilen aus. Es ist ein geradezu schauer-
liches Buch. Und doch gebe ich Ferdinand Gregori recht, dem die Ent-
deckerehre daran gebührt: es ist eines der merkwürdigsten seit Iahren
nnd eins, auf das eindringlich hinzuweisen für ein Vlatt wie das unsrige
Pflicht ist. Also ist es eine so bedeutende Dichtung? Der Sprache
nach nicht: der Verfasser hat keinen „epischen Stil" und erzählt auch
nicht sachlich naiv; er redet fortwährend glossierend, und meist ironisch
glossierend, zwischen seinen Bericht hinein, kommt selten zu wirklicher
Darstellung und schreibt seitenweise sogar in papierigem Zeitungsdeutsch.
Also ist der Stoff so interessant? Ie nun, in Kleinbürgerkreisen, bei
Arbeitern und auch bei Verbrechern hat uns ja eigentlich Zola genug
herumreisen lassen, auch für Berlin fehlt es an entsprechenden „Führern"
nicht, für Wien hatten wir allerdings noch keinen. Aber: alle jene
Schilderungen waren von Schriftstellern einer anderen Klasse geschrieben,
das „Haus Nummer 37" dagegen und seine Insassen schildert uns einer,
der diese Leute hier wenigstens ganz aus der Nähe und ganz von Grund
aus kennt, wenn er auch nicht etwa zu den Lumpen und Strolchen, sondern
zu der ehrenhaften Gruppe der „Mitwirkenden", zu den Kleinbürgern nnd
Arbeitern gehört hat. Karl Adolph war, wenn ich nicht irre, bisher ein
Stubenmaler. Das Verblüffende bei seinen Darstellungen, die auf den
ersten Blick gar an Kolportage denken lassen, ist bei näherem Zusehen die
Konsequenz seiner Eharakterzeichnungen: was nach all dem oft
Spielerischen der Erzählweise schließlich vor uns steht, sind Menschen von
einer seelischen Einheit und damit von einer Echtheit, wie sie beispiels-
weise Iola kaum je erreicht. Der in der Führung der Handlung auf das
Naivste den Maschinengott Zufall zusammenbinden und zurechtrücken läßt,
der lebt in den Herzen und Köpfen seiner Mitmenschen in einer Weise
mit, dajz er mit der Sicherheit eines großen Dramatikers weiß, was
jeder jederzeit zu tun hat. Durch diese einseitige, aber außerordentliche
Begabung gewinnen seine Schilderungen nach der psychologischen Seite
hin eine Glaublichkeit, die um so merkwürdiger ist, als sie sich durchaus
nicht immer mit unserm „Bilde" von diesem Volke decken. Das Er-
gebnis ist schließlich doch eins von großem Wert: die beste Darstellung
einer bestimmten großstädtischen Menschenschicht, die wir von ihr haben.
Und es bleibt nicht etwa beim „Interessanten": wir legen das Buch
schließlich doch mit sehr warmer Bewegung aus der Hand. Denn über
all dem Schmutz lächelt auch die Wehmut und schreitet auch die Tragik
hin zwischen diesen Guten und Schlechten, Mattcn und Starken. „Ich
habe sie geschildert mit voller Liebe, wenngleich in allen Schwächen
und Fehlern", das darf der Verfasser zum Schlusse sagen, als er dem
„vielgepriesenen, heitern, leichtsinnigen, gutmütigen Wien" doch noch ein
Lobwort mitgibt, nachdem er von recht vielem Häßlichen darin die Schminke
abgewischt hat.
tz Maiheft G08
^Wer nicht, auf eine halbe Stnnde wenigstens, den Greueln des
Lebens fest ins Gesicht sehen kann, der lese die folgenden Seiten nicht,
nnd für nnreife Menschen und empfindliche Frauengemüter sind sie
schon gar nichts. Denn in dem Buche „Haus Nummer 37" von Karl
Adolph kommen Arbeitsscheu, Trunk und Lüderlichkeit, kommen Dieb--
stahl, Hehlerei, Betrug, Notzucht, Lotschlag und Mord nicht nur vor,
nein, sie füllen es zu drei Vierteilen aus. Es ist ein geradezu schauer-
liches Buch. Und doch gebe ich Ferdinand Gregori recht, dem die Ent-
deckerehre daran gebührt: es ist eines der merkwürdigsten seit Iahren
nnd eins, auf das eindringlich hinzuweisen für ein Vlatt wie das unsrige
Pflicht ist. Also ist es eine so bedeutende Dichtung? Der Sprache
nach nicht: der Verfasser hat keinen „epischen Stil" und erzählt auch
nicht sachlich naiv; er redet fortwährend glossierend, und meist ironisch
glossierend, zwischen seinen Bericht hinein, kommt selten zu wirklicher
Darstellung und schreibt seitenweise sogar in papierigem Zeitungsdeutsch.
Also ist der Stoff so interessant? Ie nun, in Kleinbürgerkreisen, bei
Arbeitern und auch bei Verbrechern hat uns ja eigentlich Zola genug
herumreisen lassen, auch für Berlin fehlt es an entsprechenden „Führern"
nicht, für Wien hatten wir allerdings noch keinen. Aber: alle jene
Schilderungen waren von Schriftstellern einer anderen Klasse geschrieben,
das „Haus Nummer 37" dagegen und seine Insassen schildert uns einer,
der diese Leute hier wenigstens ganz aus der Nähe und ganz von Grund
aus kennt, wenn er auch nicht etwa zu den Lumpen und Strolchen, sondern
zu der ehrenhaften Gruppe der „Mitwirkenden", zu den Kleinbürgern nnd
Arbeitern gehört hat. Karl Adolph war, wenn ich nicht irre, bisher ein
Stubenmaler. Das Verblüffende bei seinen Darstellungen, die auf den
ersten Blick gar an Kolportage denken lassen, ist bei näherem Zusehen die
Konsequenz seiner Eharakterzeichnungen: was nach all dem oft
Spielerischen der Erzählweise schließlich vor uns steht, sind Menschen von
einer seelischen Einheit und damit von einer Echtheit, wie sie beispiels-
weise Iola kaum je erreicht. Der in der Führung der Handlung auf das
Naivste den Maschinengott Zufall zusammenbinden und zurechtrücken läßt,
der lebt in den Herzen und Köpfen seiner Mitmenschen in einer Weise
mit, dajz er mit der Sicherheit eines großen Dramatikers weiß, was
jeder jederzeit zu tun hat. Durch diese einseitige, aber außerordentliche
Begabung gewinnen seine Schilderungen nach der psychologischen Seite
hin eine Glaublichkeit, die um so merkwürdiger ist, als sie sich durchaus
nicht immer mit unserm „Bilde" von diesem Volke decken. Das Er-
gebnis ist schließlich doch eins von großem Wert: die beste Darstellung
einer bestimmten großstädtischen Menschenschicht, die wir von ihr haben.
Und es bleibt nicht etwa beim „Interessanten": wir legen das Buch
schließlich doch mit sehr warmer Bewegung aus der Hand. Denn über
all dem Schmutz lächelt auch die Wehmut und schreitet auch die Tragik
hin zwischen diesen Guten und Schlechten, Mattcn und Starken. „Ich
habe sie geschildert mit voller Liebe, wenngleich in allen Schwächen
und Fehlern", das darf der Verfasser zum Schlusse sagen, als er dem
„vielgepriesenen, heitern, leichtsinnigen, gutmütigen Wien" doch noch ein
Lobwort mitgibt, nachdem er von recht vielem Häßlichen darin die Schminke
abgewischt hat.
tz Maiheft G08