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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,2.1911

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Heft 9 (1. Februarheft 1911)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9018#0263
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Nicht so, als ob die Produktion
von jeder Schuld am Niedergang,
jedem Verdienst am Aufstieg dcr
Geschmackskultur frei wäre. Die
Beziehungen zwischen Bedarf und
Erzeugung sind immer wechselseitig,
aber in diesem Spiel der Kräfte
sind die auf jener Seite die stär--
keren. Es läßt sich nachweisen —
und ich werde das demnächst an
andrer Stelle tun —, daß die
Schichtung des Bedarfs das Pri-
märe ist, und daß der Produzent
nach Maßgabe der ihm zur Ver-
fügung stehenden produktiven Kräfte
und der Konkurrcnzverhältuisse nur
insofern eine beschränkte Wahlfrei-
heit hat, als er sich für mehr
oder minder hoch qualifizierte Be°
darfsschichten entscheiden kanu.
Allerdings — und damit komme
ich auf die andre Seite dieser
Wechselbeziehungen — sind diese
Vcdarfsschichten nichts unverrück-
bar Festes. Sie entwickeln sich,
und der Produzent hat es in der
Haud, diesc Entwicklung zu hemmen
oder zu förderu, die Grenzlinien
zwischen den einzelnen Schichten
ein wenig nach oben oder unten
zu verschieben. In den Iahren
des Industrieaufschwungs, der Zeit
des „billig und schlecht", hat nicht
die Produktion den Konsum zur
Geschmacklosigkeit und zum Plun-
der erzogen; der Bedarf der wach-
senden Menschenmassen bis ziemlich
hoch hinauf war, mehr oder weniger
unter dem Druck harter wirtschaft-
licher Notweudigkeit, auf das Bil-
lige gerichtet — man lese die Reise-
berichte von Franzosen und Eng-
läudern, die in jener Zeit Deutsch-
land besuchten —, und dem sich zum
Wohlstand hinaufarbeitcnden Volke
waren Fragen des Geschmacks
nebensächliche Dinge. Das ist
Schicksal aller Pioniergenerationen:
ihr Kampf verschlingt sie. Eine
Produktion, die für die Bedürf-

nisse eines gcreiften Kulturvolkes
hätte arbeiten wollen, wäre da-
mals unmöglich gewesen. Aber
eins darf man wohl sagen: die
Industrie jeuer Tage hatte nur
an wcnigen Stellcn das Bewußt-
sein, daß auch sie mit verantwort-
lich ist für die Kultur. Sie folgte
zumeist sehr willig den niederziehen-
den Strömungen des Bedarfs, ja
— auch das läßt sich nachweisen —
sie bemühte sich in ausschließlicher
Wahrnehmung augenblicklicher
Erwerbsinteresscn, diese Ströme zu
vertiefen und zu vcrbrciteru. Sie
stärkte die unteren Schichten des
Bedarfs (untcrn nicht im Sinne
der sozialen Ordnung, sondern der
Wertigkeit) und crschwerte dadurch
sicherlich die kulturelle Wiederge-
burt. Nud umgekehrt: als vor zehn
Iahren etwa in Deutschland hier
und da vcreinzelt jene Werkstätten-
firmen entstanden, die als erste
planvoll den Gcdanken der neuen
Haudwerkskunst verwirklichten, war
das nur möglich, weil der Bedarf
für Dingc eincs verfeinerten Ge°
schmacks schou so stark gewordcn
war, daß er diese Unternehmen
tragen konnte. Freilich, in der
Folge arbeiteten sie nun auch be-
wußt darauf hin, die schmalen
Bedarfsschichten, auf die sie sich
zunächst stützten, auf Kosten der
minder entwickelten zu vergrößern,
die nach oben strebcndeu Tendenzeu
der künstlerischen Bewegung zu
kräftigen. Es ist uugemein an-
reglich, zu beobachten, wie etwa
ein neues Möbel von Niemer»
schmid, eine nene Schriftform von
Pcter Bchrens bishcr nur latent
vorhandenen Bedarf frei macht.
Iede Bedarfsschicht hat an ihren
Grenzen sowohl nach oben wie
nach uuten solche Streifen latenter
Bedürfnisse, sie mögen nun quanti-
tativer oder qualitativer Art sein.
Von der Politik der gewerblichen

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