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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,2.1911

DOI Heft:
Heft 10 (2. Feburarheft 1911)
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Stadelmann, Heinrich: Das Pathologische im Kunstwerk, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.9018#0294
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William Blake sah als Erscheinungen leibhaftig vor sich bc-
kannte Personen, wie auch Gestalten, die seine Phantasie selbst erfunden.

Edgar Allan Poe hat vielfach, unter anderm in seiner Novclle
„Die Wassergrube und das Pendel" eine Reihe von geistigen Vildern
zn Werken zusammengcfügt, die sich aus dem großen seelischcn Organis-
mus als Illusion und Halluzination herausgelöst haben.

Bei allen diesen Beispielen finden wir, daß die geistigen Vilder zu
weit aus dem geschlossenen Ich herausgetrcten sind; daß sie ihre Form
verändert haben; daß sich allerlei seelische Bilder zusammengcmischt haben
zu einem neuen Bilde und daß sie ohne Kontrolle seitens der übrigen
Bilder dcr Erfahrung ihr eigencs Dasein führen.

Der „wilde Iäger", der „fliegende Holländer", die „weiße Frau",
Wichte, Kobolde und viele andere Gestalten, die künstlerischen Ausdruck
gefunden haben, sind hervorgegangen aus Volkssagen. Hier geschieht
die Umbildung eines Ereignisses durch eine Reihe von Individuen und
Gencrationen hindurch. Wie vergleichswcise der Künstler das Ereignis
in seiner Seele dahin schickt und dorthin zu den Eindrückcn andrcr
Ereignisse, zu seinen Erinnerungen, so sind in der Volksseele, als eine
Einheit gcdacht, die umbildenden Erinnerungen ganzer Generationcn die
Veranlasser zur Bildung einer neuen Welt, des Volksmhthus. Dabei
können ebenfalls pathologische Momente sich einschleichen. Ilmbildungen
der Wirklichkeit zu den Sagen sind vielfach aus pathologischen Gefühlcn
und Vorstellungen hervorgcgangen; die pathologische Angst und dic
Furcht erzeugt Gespenstcr, wie auch das pathologische Hoffen Visionen
bringt. > nj

Das Pathologische in der Kunst ist häufiger, als man anzunehmen
geneigt ist. Die genauere Betrachtung ergibt eine Fülle „pathologischer"
Elcmente in Werkcn. Bei vielen hat uns nur die Gewohnheit den Blick
dafür getrübt.

Deutlicher tritt das Pathologische in der Kunst hervor, wenn es
sich auf das Gefühl bezieht. Verkehrte Werte und verneinende Wcrte
in Kunstwerken fallen leicht auf. Wenn Liebe sich in dem Verlangcn
nach dem Tode des Geliebten äußert, wie in Oskar Wildes Drama
Salome, fühlt jeder das pathologische Moment heraus. Die begchrende
Liebe hat sich auf der Höhe des Gefühles überschlagen und sich verkehrt
zum Verlangen nach der Vernichtung dcs Geliebten. Solche Vorkomm-
nisse sind nicht alltäglich. Aber in ganz leichtem Grade kommt dcr
seelische Wesenszug der Verkehrung auch im täglichen Leben vor. „Was
sich liebt, das neckt sich", man kann sich aber auch aus Liebe quälen
und vom Körperlichen bis zum feinst Geistigen Lust am Quälen des
Gcliebten finden. Im Pathologischeu kann diese Art von Gefühls-
rcgung bckanntlich grauenhaft bis zum Lustmord wachsen.

Das Pathologische ist nur die Ausartung von dcm Gewohnten; das
Zerrbild des Normalen. Es treten im Pathologischen nicht neue Wesens-
züge dcr mcnschlichcn Seele auf; cs sind die alten in gcsteigcrter oder
in hcrabgesetzter Form. Diese Tatsache ist deutlich zu erkennen bci den
Illusionen, von denen vorher die Ncde war. Von dem einfachen Ver-
kennen eincs Gegenstandes bis zu dcssen völliger Umdcutung in der
Phantasie bestehen Unterschiede nur stufcnweis. Im Grunde handelt
es sich da wie dort um den nämlichen scelischen Vorgang; aber der

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