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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,2.1911

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Heft 10 (2. Feburarheft 1911)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.9018#0314
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Manne gekauft, der mehr solche Blätter aus Lelle mitgebracht hat. Unserem
Herzog sein Siegel ist darunter. Da, Euer Ehren!" Er fiel auf die Bank
und jappte und mit einem Male lief ihm das Wasser aus den Augen.

Er sprang aber gleich wieder auf, deun der Wulfsbauer kam ange-
laufeu. Er war im Grasgarten geweseu uud hatte das Schreien und
Weinen und Lachen gehört. Und nun stand er da und beberte an allen
Gliedern und sah wie eine frisch gekalkte Waud im Gesichte aus. „Wawawas
ist llos?" stotterte er. Der Prediger hob die Hand. „Ich werde vorlesen."
Alle falteten die Hände, bloß der Burvogt nicht; der hatte keine Kraft
dazu. Er stand an der Hauswand, sah ganz elend aus, hatte den Muud
offen uud ganz uuglücklichc Augen, und holte so ticf Luft, als wenu er
ersticken müßte.

Der Prediger hatte zu Ende gelesen. Alles lachte uud weinte wie
verrückt durchcinander. Mit einem Male drehten sich alle um. Was
war denn das? Der Wulfsbauer hatte ganz schrecklich aufgeschrien, und
jetzt stand er mit dem Kopfe gegen die große Tür, hatte die Händc vor
dcm Gesicht und weinte wie ein Kind. Daun drehte er sich um, ging wie
ein todkranker Manu auf seine Frau los, nahm sie an den Arm und sagte:
„Mutter, bring mich zu Bett; ich bin ja so müde!"

Die Frau faßte ihu unter den Arm, wischte ihm die Tränen ab und
sagte: „Ia, ja, ich briuge dich zu Bett, mein Iunge. Du sollst nuu auch
schön schlafen." Da lachte keiner von den Leuten mehr; es wurde ganz still,
nur daß auf der Wiese die Kiuder das neuc Lied saugen, das sie in der
Schule gelernt hatten:

Herzlich tut mich crfreuen
die fröhliche Sommerzeit,
all mein Geblüt erneuen,
die Mai in Wollust freit;
die Lerch tut sich erschwingen
mit ihrem hellen Schall,
lieblich die Vöglein siugen
dazu die Nachtigall.

Der Wulfsbauer schlief sich ordentlich aus; er schlief drei uud eiue halbe
Woche lang, und er wäre wohl überhaupt nicht aufgewacht, weun cr nicht
so eine Bärennatur gehabt hätte.

Denn er hatte das Nervenfieber bekommen. Es war zu viel" für ihu
geweseu. Auch hatte er zu tief durch Blut gehen müssen; erst bis au die
Enkel, dann bis zu den Knien, bis er bis über die Lenden darin stand
und es immer höher und höher stieg, so daß es ihn schließlich bis an deu
Mund kam. Viel hatte nicht mehr gefehlt, da lief es ihm da hincin und er
mußte ersticken.

Schon längst hatte er es uicht mit anseheu können, wenu eiu Schwein
geschlachtet wurde. Wurst, die aus Blut gemacht war, aß er seit Iahren
nicht mehr, und ihm wurdc schlecht, wenn sich eines von den Kinderu
iu deu Finger schnitt.

Abcr er hatte das alles für sich selbst behalten; zu kcinem Meuscheu
hatte er darüber gesprocheu, weder zu Drewes, noch zum Viekenbauer,
noch zu dem Prediger, geschweige denn zu dcr Bäuerin. Er hatte all seinen
Ekel jeden Tag in sich hineingcfressen wie der Hund seiuen Uurat, und

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